Dalia Schipper ist Co-Präsidentin der jüdischen Gemeinde in Bern. Foto: Stefan Maurer

Dalia Schipper: «Die Situation ist nur schrecklich»

Die Lage im Nahen Osten eskaliert. Auf den Einmarsch Israels in den Südlibanon Dienstagmorgen reagierte Iran mit einem Raketenhagel auf Israel. Dalia Schipper, Co-Präsidentin der jüdischen Gemeinde Bern, hofft, dass die ruhigen Stimmen sich doch durchsetzen. Für die Schweiz befürchtete sie eine Verstärkung des Antisemitismus.

 

Annalena Müller

«pfarrblatt»: Frau Schipper, wie geht es ihnen heute?

Dalia Schipper: Danke, es geht mir den Umständen entsprechend gut.

Fast genau am Jahrestag des schrecklichen Massakers der Hamas in der Negev-Wüste eskaliert die Lage in Nahost. Ist ein Dialog in dieser Spirale der Abschreckung überhaupt möglich?

Schipper: Die Situation ist nur schrecklich. Ich fürchte, die Spuren des Dialogs werden mehr und mehr unsichtbar.

Auch in der Schweiz ist die Debatte emotionalisiert. Heute haben über 100 Organisationen, darunter viele Studierendenverbände und die Jusos Bern, für den 5.Oktober zu einer Demonstration in Basel aufgerufen. Israel wird in dem Aufruf als «Apartheitsstaat» bezeichnet und ihm wird ein Genozid an der palästinensischen Bevölkerung vorgeworfen. Ist auch bei uns der Dialog unmöglich?

Schipper: Es gibt auch in der Schweiz verschiedene Facetten – total verhärtete Fronten und offene Dialogfenster. Die ersteren sind definitiv lauter als die zweiten. Ich beschäftige mich lieber mit den zweiten, also den offenen Dialogfenstern. Sie tun mir besser. Und ich glaube auch, dass diese letztlich die nachhaltigeren Ansätze haben, um zu einer Art Gemeinsamkeit zu kommen.


Im Interview mit dem «pfarrblatt» spricht der Judaistik-Professor Christian Rutishauser SJ über die Wiedergeburt der «Judenfrage» des 19. Jahrhunderts. Der «Judenfrage» lag ein tiefer struktureller Antisemitismus zugrunde. Man glaubte, wenn das «jüdische Problem» gelöst werde, viele anderen Probleme sich mitlösen würden. Teilen Sie diese Befürchtung?

Schipper: Ich teile die Befürchtung, dass der tiefe strukturelle Antisemitismus – ich spreche jeweils davon, dass er «genetisch» ist – nach wie vor besteht. Gleichzeitig sehe ich immer mehr Menschen, die auf eine tiefere Verbundenheit in jeder Hinsicht setzen: Sie denken, sprechen und handeln danach. Vielleicht ist es nur meine Bubble – aber als grundsätzlich optimistischer Mensch halte ich mich daran fest.

Die Gedenkveranstaltung zum 7. Oktober in der Berner Synagoge findet unter hohen Sicherheitsmassnahmen statt. Teilnahme ist nur auf Einladung möglich. Warum sind diese Massnahmen nötig?

Schipper: Die Sicherheitslage ist nach wie vor angespannt – die vorhergehenden Fragen zeigen das ja auf.

Das «jüdische Forum Gescher» hat im Sommer zu mehr Empathie und Differenziertheit aufgerufen. Ist dieser Aufruf in Anbetracht der politischen Entwicklungen der letzten Wochen verhallt?

Schipper: Nein, der ist nicht verhallt. Aber er wird aktuell überbombt. Wir sehen das ja überall: Derjenige, der lauter ist, wird eher angehört. Das heisst aber nicht, dass die leisen Töne nicht länger wahrnehmbar sind. Wir können und sollten unsere Ohren für die leisen Töne schärfen, weil es der Welt und uns selbst besser tut.
 

Krieg in Nahost

Am 7. Oktober 2023 griff die radikalislamische Terrororganisation Hamas Festivalbesuchende und Kibbuzim in der Negev-Wüste an. Ca. 1200 Menschen wurden ermordet, viele Frauen wurden vergewaltigt, über 200 Menschen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt.

Seither führt die Regierung Netanjahu einen international stark kritisierten Krieg in Gaza, dem Schätzungen zufolge mehr als 30'000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Die mit der Hamas verbündete Hisbollah, die im Südlibanon sitzt, beschiesst den Norden Israels seither regelmässig.

In den letzten Tagen drehte sich die Eskalationsspirale immer schneller. Israel ist in den Südlibanon einmarschiert und Iran reagierte am Dienstagabend mit Raketenangriffen. Ein grosser Krieg in der Region, der auch Interventionen aus Europa und den USA nach sich ziehen könnte, scheint ein realistisches Szenario.

Auch in der Schweiz, wo die Diskussion stark emotionalisiert ist, dürfte die Eskalation in Nahost spürbar sein. Für den 5.10. haben 100 linke Organisationen zu einer Pro-Palästina-Demonstration in Basel aufgerufen. Die Gedenkfeier an das Massaker des 7. Oktobers in der Berner Synagoge kann nur unter strengen Sicherheitsmassnahmen durchgeführt werden. am