«Man sollte Kirchgemeinden in Sozialgemeinden umbenennen», sagt der Unternehmer Stefan Amrein. Foto: Sylvia Stam

«Der Schritt zum Kirchenaustritt dauert bei Katholik:innen länger»

Stefan Amrein betreibt die Website kirchenaustritt.ch. Der Ex-Katholik findet, die Kirche tue sehr viel Gutes, vermarkte sich aber schlecht.


Sylvia Stam

Stefan Amrein kam eher zufällig auf die Idee, aus dem Kirchenaustritt ein Geschäftsmodell zu machen. Das sagte der Unternehmer kürzlich auf einem Podium der katholischen Kirche Stadt Luzern zum Thema Konfessionslosigkeit. Im Interview erzählt er, dass die Bindung von Katholik:innen zu ihrer Kirche oft stärker ist als bei Reformierten. Und dass er bei vielen Kirchgemeinden Aufklärungsarbeit in Sachen duales System leisten müsse. Die Kirchgemeinden finanzierten sehr viel Gutes in der eigenen Region. Doch der Begriff «Kirche» wecke Assoziationen mit Rom und Missbrauch. Er plädiert daher für eine Umbenennung in Sozialgemeinden. 

«pfarrblatt»: Wie kam es zur Plattform kirchenaustritt.ch?

Stefan Amrein*: Ich wurde 2010 von zwei älteren Personen angefragt, ihren Kirchenaustritt administrativ zu erledigen. Mir selbst war es bis dahin nicht gelungen, aus der Kirche auszutreten, weil der Pfarrer mit mir reden wollte. Mit 18 hatte ich jedoch keine Lust auf ein Gespräch und liess es darum vorerst bleiben. Eine Internetrecherche zeigte mir, dass es für einen Kirchenaustritt kein Hilfsangebot gab. Da kam mir die Idee, daraus eine Dienstleistung zu machen. Ich glaubte allerdings selbst nicht daran, dass auch nur eine einzige Person dafür bezahlen würde. 

Und das war anders?

Amrein: Ja, ich verlangte damals 99.- Fr, das ist ein hoher Preis. Aber 2010 wurden die ersten Missbrauchsskandale bekannt. Der Unmut darüber war vermutlich so gross, dass die Leute das bezahlt haben. Bei grosser medialer Aufmerksamkeit hatten wir in den ersten drei Monaten bis zu fünf Austritte täglich. Aus einer Idee wurde ein Businessmodell und daraus eine Organisation, weil es anfänglich viele rechtliche Fragen zu klären gab.  

Ein Kirchenaustritt ist eine Formsache. Mit welchen Sorgen wandten die Menschen sich dafür an Sie?

Amrein: Fragen zu den Konsequenzen sind vielschichtig. Vor 15 Jahren waren die Ängste vor Diskriminierung gross. Viele wollten wissen, wer vom Austritt erfährt und ob sie nach einem Austritt noch beerdigt würden. Heute sind es vorwiegend Fragen zu den Konsequenzen für Kinder und Partner:innen. Grundsätzlich hatten die Menschen früher mehr Angst vor der Reaktion der Kirche. Heute ist der Austritt eher ein «normaler» Schritt. Das Stigma und die Angst vor der Kirche sind kleiner geworden. 

Was für rechtliche Probleme gab es anfänglich?

Amrein: Viele Kund:innen wandten sich an uns, sie hätten einen Brief bekommen, in der die Pfarrperson das Gespräch suche. Doch meine Kund:innen wollten das nicht. Ich habe mich dann schriftlich mit der Kirchgemeinde in Verbindung gesetzt, denn anzurufen war mir unangenehm, zumal ich oft heftige Reaktionen bekam. 

Was für Reaktionen?

Amrein: Ich wurde beispielsweise als Abzocker betitelt. In Flawil hatte ich mit einem Kirchgemeindepräsidenten zu tun, der eine Anwaltskanzlei hatte. Seine Haltung war: Man tritt nicht aus der Kirche aus und schon gar nicht über Ihr Unternehmen. Viele Kirchgemeinden reagieren auf einen Kirchenaustritt mit einem Schreiben. Immer wieder kamen Rückfragen, die Kirchgemeinde brauche das Taufdatum und den Taufort. 

Und das braucht es nicht?

Amrein: Nein. Es braucht eine schriftliche Willensäusserung. Die Kirchgemeinde muss den Kirchenaustritt lediglich schriftlich bestätigen, zuhanden des Steueramts. Oft wird nicht zwischen der Kirchgemeinde und der Pfarrei unterschieden. Hier mussten wir sehr viel Aufklärungsarbeit leisten. Bei der Taufe wird der Täufling in das Taufbuch der Pfarrei eingetragen. Dieser Eintrag muss jedoch beim Austritt nicht gelöscht werden. Der «Austritt» aus der Taufpfarrei hat rechtlich keine Relevanz, er ist symbolisch und ohne Konsequenzen. Darum schreiben wir in unserem Formular, dass man aus der Kirchgemeinde austreten will. Ich verstehe, dass die Kirchgemeinde oder die Seelsorgerin sich verabschieden möchte, aber es braucht im Prinzip nicht mehr als eine Bestätigung des Austritts.  

Die Reaktion der Kirchenvertreter:innen verunsichert die Austrittswilligen. 

Amrein: Ja, die Leute fragen sich: Was muss ich jetzt tun? Egal, ob die Reaktion der Kirche verärgert, mutwillig oder nett gemeint ist, es verwirrt die Leute und damit kommen sie zu uns. Inzwischen haben wir Standardformulierungen und Mailvorlagen für jeden Fall. Die Problemfälle haben in den letzten Jahren abgenommen. 

Warum wollen die Menschen austreten?

Amrein: Die meisten identifizieren sich nicht mehr mit der Kirche oder mit dem Glauben. Nach meiner Erfahrung brauchen Katholik:innen länger, bis sie den Schritt zum Austritt vollziehen. Die Bindung ist deutlich stärker als bei den Reformierten. Auch bei mir selbst war das ein jahrelanger Prozess. Ich habe nie schlechte Erfahrungen gemacht mit der Kirche, aber ich konnte mich einfach nicht damit identifizieren. Das Argument, dass man keine Kirchensteuer mehr zahlen möchte, kommt nur, weil die Identifikation fehlt. 

Wie viele Leute nutzen Ihr Angebot jährlich?

Amrein: Wir haben rund 200'000 Besucher:innen auf unserer Seite. Wir haben pro Tag rund 16 Downloads des kostenlosen Austrittsformulars, katholisch und reformiert zusammen. Zum kostenpflichtigen Formular geben wir keine Auskunft. Inzwischen gibt es viele verschiedene Wege auszutreten. Unsere Kund:innen sind jene, die nichts mit dem Prozess zu tun haben wollen. 

Was könnten die Kirchen aus Ihrer Sicht besser machen?

Amrein: Die Kirchgemeinden finanzieren so viel Gutes, dass man Kirchgemeinden in «Sozialgemeinden» umbenennen sollte. Denn sie springen genau dort ein, wo die Gemeinde oder der Kanton versagt. Kirche hilft dort, wo die Leute sind: «Aus der Region, für die Region». Das spricht sehr viele Menschen an. Ich bin überzeugt, dass viele, die mit Glauben oder Kirche nichts am Hut haben, die Kirchensteuer locker bezahlen, wenn sie wissen, dass das Geld den Leuten am eigenen Wohnort zugute kommt. Aber das Wort «Kirche» ist eine schlechte Dachmarke. Wenn irgendwo in Australien ein Kind missbraucht wird, treten Menschen hier aus der Kirche aus. 

Die Kirche ist jedoch eine Glaubensgemeinschaft, ihr Kerngeschäft die Verkündigung des Evangeliums. 

Amrein: Die Glaubensgemeinschaft ist die Pfarrei. Die Kirchgemeinde ist jedoch die öffentlich-rechtliche Organisation, die all das Gute finanziert. Mitglied einer Kirchgemeinde kann jede Person, unabhängig vom Glauben, werden. Die CVP, eine zutiefst christliche Partei, hatte den Mut, den Namen in «Die Mitte» zu ändern. Nur weil man den Namen ändert, muss sich ja der Kern nicht auch ändern. 

Stefan Amrein ist Initiant und Geschäftsleiter des Portals kirchenaustritt.ch. Das Unternehmen hat seinen Sitz in Sursee LU.