Der Friedhof von Müstair im Winter. Foto: zVg

Eine (Winter-)Reise nach Müstair ins Kloster St. Johann

Teil 2: Feriengäste, Selbstversorgung und Klausur


Gegründet von Karl dem Grossen, berühmt für seine Fresken und UNESCO-Weltkulturerbe, zieht das Kloster St. Johann jedes Jahr 45'000 Touristen ins Val Müstair. Heute leben hier noch acht Ordensfrauen. Sie schauen in eine ungewisse Zukunft. 

Annalena Müller*

Ihr Leben spielt sich fast komplett im Kloster ab. Zwischen den Gebeten arbeiten die Frauen. Ora et labora, bete und arbeite, das ist die Essenz des Klosterlebens, an der sich in den letzten 1500 Jahren wenig geändert hat. Minim bequemer geworden ist es. In mittelalterlichen Klöstern wurde die Vigil oft schon um 02.00 oder 03.00 Uhr gebetet. Und früher hatten die Nonnen keine Einzelzellen, sondern teilten sich einen grossen Schlafsaal.

Die unveränderliche Struktur des Klosteralltags sei ein Kontrast zur Hektik in der Welt, findet Bernd Eichert. Der pensionierte Lehrer ist mit seiner Frau und seiner Schwägerin aus Norddeutschland angereist. Er liebt die Berge und sucht in St. Johann die Stille, «um Gott zu erfahren.» Die gemeinsame Tagesgestaltung, samt der Gebete und dem Schweigen geben dem Protestanten Energie und haben ihn, so Eichert, in seinem Lehrerberuf vor einem Burnout bewahrt.

Die Feriengäste schätzen die Bescheidenheit der Frauen und die Schlichtheit des Klosterlebens. In ihren Gebeten bitten die Schwestern Gott, er möge seine Gnade all jenen Menschen schenken, die sie brauchen, «gleich ob sie an dich glauben oder nicht». Und im Abendgebet beten sie demütig: «Herr, schenke uns eine ruhige Nacht und erholsamen Schlaf.» Zu den Mahlzeiten gibt es Käse und Konfitüre aus eigener Produktion, Salat und Gemüse aus dem Klostergarten. Es hat von allem genug, aber ohne den Überfluss und die Reizüberflutung moderner Hotelbuffets, auch das schätzen die Gäste.
 


Selbstversorgung früher und heute

Bis vor wenigen Jahren haben die Schwestern alles selbst gemacht – gegärtnert, gekocht, geputzt und die Gäste bewirtet. Heute übernehmen Angestellte die meisten Aufgaben. Das Kloster ist, wie viele andere in Europa, überaltert. Die jüngste der heute noch acht Frauen ist 60, die älteste 92 Jahre.

Das Kloster beschäftigt heute unter anderem eine Gärtnerin, eine Köchin und eine Rezeptionistin, die sich um Administratives im Gästehaus kümmert. Dazu kommen ein Maurer und ein Schreiner. Der Unterhalt der alten Gemäuer ist aufwendig und wird von der Stiftung «Pro Kloster St. Johann» finanziert. Seit Gründung im Jahr 1969 hat die Stiftung ungefähr 80 Millionen Franken in Renovation und Restauration investiert, erklärt Ebenhöch. 

Die Stiftung finanziert sich über Spenden und öffentliche Gelder. Gegründet wurde sie, um den Klosterfrauen bessere Lebensbedingungen zu ermöglichen. In den 1960er Jahren war das Kloster in einem desolaten Zustand. «Es hat überall getropft und bei Unwettern haben die Schwester in nassen Betten geschlafen», weiss Romina Ebenhöch. Der Planta-Turm aus dem 9. Jahrhundert, der heute das Museum beherbergt, wäre in den 1990ern fast eingestürzt. 

Die Restaurierungen des Klosters dauerten über drei Jahrzehnte. Ein grosser Teil der Arbeiten fiel in die Zeit des Priorats von Schwester Pia (92). Sie stand dem Kloster zwischen 1986 und 2003 vor. Eingetreten ist Pia im Jahr 1958, zu einer Zeit als der Lebensstandard der Schwestern «rudimentär» war, wie Ebenhöch es nennt.

Schwester Pia ist in Zürich geboren und trat mit 26 ins Kloster ein. Mit Müstair kam die Städterin, die damals noch Johanna hiess, bei einem Familienausflug in Berührung. «Ich spürte, dass ich hierhingehöre», sagt die alte Frau. Also sei sie nach dem Ausflug nochmals allein nach Müstair gereist und habe sich im Kloster angemeldet. Es klingt alles ganz selbstverständlich, wenn sie davon erzählt.


Strenge Abgeschiedenheit bis in die 1990er Jahre

Trotz ihrer Berufung fiel Pia das Klosterleben am Anfang nicht leicht. Der reglementierte Tagesablauf, die körperliche Arbeit und die Trennung von der Familie seien ihr durchaus schwergefallen. Bis in die 1990er Jahre lebten die Schwestern in strenger Klausur. Ein Gitter trennte die Ordensfrauen von der Aussenwelt. Selbst mit Familienmitgliedern durften die Schwestern nur durch das Gitter sprechen. Die Novizenmeisterin, eine Art Betreuerin während ihrer fünfjährigen Probezeit, sei «sehr streng gewesen». Das habe man erdulden müssen. Ähnlich wie das morsche Kloster und die feuchten Zellen. 

Herausforderungen zu erdulden, ist ein Teil des Klosterwesens. Genau wie Pragmatismus, mit dem die Frauen manchmal die Strenge umgehen. Schwester Dominica (80) plaudert im Garten aus dem Nähkästchen. Das Klausurgitter sei grobmaschig gewesen. Als ihre Schwester sie mit ihrem neugeborenen Sohn besuchte, hätten sie bemerkt, dass das Baby durch die breiteste Gitteröffnung passte. «So konnte ich den Kleinen trotz Klausur halten». Auch Pralinen hätten so manches Mal den Weg in die Klausur gefunden, erzählt Dominica und lacht.
 

*Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen
 

Lesen Sie in Teil 3 welche Zukunftsperspektiven die Frauengemeinschaft in Mustair hat.