Foto: Pia Neuenschwander

Heidi Maria Glössner rockt Bern

Am Freitag stand sie in St. Gallen noch im Musical «Rock Horror Picture Show» auf der Bühne und feierte mit Kolleg:innen in ihren Geburtstag hinein. Am Samstag rockt sie die Katholische Kirche Guthirt in Ostermundigen. Für Heidi Maria Glössner gehört beides wie selbstverständlich dazu.

Christian Geltinger

 

«Ich bin heute 81 Jahre alt geworden», daraus macht Heidi Maria Glössner keinen Hehl. Muss sie auch nicht. Denn das Programm, das sie dieser Tage absolviert, würde jeden 40-Jährigen an seine Grenzen bringen: In St. Gallen ist sie gerade im Erfolgsmusical «Rocky Horror Picture Show» als Erzählerin zu erleben, immerhin 16 Vorstellungen in knapp drei Monaten, an den Bühnen Bern startet die Wiederaufnahme der Erfolgsproduktion «Grand Horizons» und dazwischen laufen die Dreharbeiten für einen neuen «Tatort». Und dennoch: Das Wort «Stress» gibt es für sie nicht. «Ich mache das, was mir Freude macht.»

«Ein wenig ein Kontrastprogramm ist es ja schon», kokettiert sie lächelnd gegenüber dem Publikum in der bis auf den letzten Platz gefüllten Kirche, «gestern stand ich noch in Strapsen auf der Bühne und heute lese ich vor Ihnen aus der Bibel.» Dabei haben es Geschichten wie «Susanna im Bade» oder «Judith und Holofernes» durchaus in sich. Sie erzählen von sexuellen Übergriffen im Alten Testament und von starken Frauen, die den Männern das Handwerk legen.

Bibel fordert heraus

So spielt das Leben damals wie heute, leider. Teilweise sei das Frauenbild ja schon etwas antiquiert, so Glössner, wenn konstatiert würde, dass die Frau dem Manne untertan sei. Die Bibel fordert uns eben immer noch heraus. Gerade deshalb kann es spannend sein, dass wir uns mit ihr auseinandersetzen. Und Heidi Maria Glössner macht das mit grossem Respekt und einer Liebe zu den Geschichten und ihrer Sprache. Die Bezeichnung «Kulturkatholikin» umschreibt ganz gut ihr Verhältnis zum Glauben. Sie ist katholisch sozialisiert und bekennt sich noch heute offen dazu. Auch wenn sie es nicht mehr aktiv praktiziert, ist es für sie immer ein Stück «Heimat» geblieben.

 


Eine Lesung weckt beim Zuhörenden, egal welchen Alters, das Gefühl von Märchenstunde, im besten Sinne des Wortes. Vielleicht ist das auch der Grund für die Popularität von Hörbüchern. Entsprechend aufmerksam war das Publikum bei diesen biblischen Geschichten in Luxusbesetzung. Das spürte man insbesondere dann, wenn die Zuhörenden das Lachen über die heuchlerischen Lügen der alten Lustmolche, die Susanna gegenüber zudringlich geworden waren, nicht mehr unterdrücken konnten oder ihnen das Entsetzen über das salomonische Urteil ins Gesicht geschrieben stand. 

Schrecken der Kriege

Gerade die Texte des Alten Testaments lassen uns den Schrecken der kriegerischen Auseinandersetzungen, von denen der Nahe Osten bis heute in Mitleidenschaft gezogen ist, spürbar werden. Da ist der Schritt zu Texten von Nelly Sachs, Walter Benjamin oder Hilde Domin nicht weit.

Der Musiker Wieslaw Pipczynski öffnete, teils am Flügel, teils auf dem Akkordeon, einen imaginären Raum, um das Gehörte emotional und intellektuell nachwirken zu lassen. Unscheinbar legt er den Teppich aus für das persönliche Innehalten. Man merkt, dass die beiden seit Jahren ein eingespieltes Team sind und dass «Pip» (so sein Künstlername) als gefragter Stummfilmpianist ein Talent dafür hat, sensibel Stimmungen aufzugreifen und in Musik zu übersetzen.
 

Das Programm «Heidi Maria Glössner liest die Bibel», das die Katholische Kirche Region Bern anlässlich ihres 225-jährigen Jubiläums kostenlos anbietet, ist noch zwei Mal zu erleben, am 26. Oktober (St. Marien, Bern) und am 3. November (St. Michael, Bern), jeweils 17 Uhr. Am 25. und 26. Oktober ist Heidi Maria Glössner darüber hinaus in der Heiliggeistkirche zu erleben, wo sie im Rahmen der Veranstaltung «Asking the Pope for Help» Briefe von jüdischen Menschen liest, die Papst Pius XII. während des Zweiten Weltkriegs um seine Hilfe gebeten haben. Mehr dazu: www.theatereffinger.ch