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Der Pianist Nikolay Pushkarev ist aktuell in Bern sicher. Foto Pia Neunschwander
Klavier statt Kalaschnikow: Ukrainischer Pianist strandet in Bern
Der ukrainische Pianist Nikolay Pushkarev lebte in Amerika, dann wurde ihm sein Pass in Prag gestohlen. Heute ist er froh, in Bern und nicht im Krieg zu sein.
Elisabeth Zschiedrich
Wenn einem auf Reisen das Gepäck gestohlen wird, mit allen Wertsachen, Bankkarte, Reisepass, ist das immer ärgerlich. Für den Ukrainer Nikolay Pushkarev war es eine Katastrophe. «Der 15. Juni 2024 hat mein Leben verändert», sagt der 27-jährige.
An dem Tag spielte er bei einem Opernfestival in Prag. Nach der Aufführung im Nationaltheater war sein Rucksack aus dem Backstage-Bereich verschwunden. Erst hoffte Pushkarev auf eine Verwechslung. Doch dann sah er den Dieb auf einem Überwachungsvideo.
Zurück in die USA konnte Pushkarev nicht
Für Nikolay Pushkarev hiess der Verlust seines Passes, er würde nicht nach Cleveland, USA zurückkehren können. Dorthin, wo er seit acht Jahren lebte. Und einen neuen Pass würde er nur in der Ukraine bekommen.
Seit Mai 2024 stellen ukrainische Botschaften Männern zwischen 18 und 60 Jahren keinen neuen Pass aus, wenn diese sich nicht zuvor beim Militärdienst registriert haben. Die Regierung will kriegsfähige Männer in ihr Heimatland zurückholen, wo sie eingezogen werden können.
Als kriegsfähig sieht er sich nicht
Als kriegsfähig sieht sich Pushkarev aber nicht. «Schauen Sie mich an, ich kann Klavier spielen, aber kein Gewehr bedienen», sagt er, dunkle Haare, feines Gesicht, schmale Figur. Schon im ersten Kampf würde er sterben, davon ist er überzeugt.
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Pushkarev ist in Kiew geboren und wuchs in einer Musikerfamilie auf. Seit er sieben ist, spielt er Klavier. Zum Studium ging er in die USA, an das «Cleveland Institute of Music». Er machte einen Master, absolvierte ein Postgraduiertenprogramm, hatte regelmässig Aufträge als Pianist. Pushkarev nahm an Wettbewerben teil und gewann international Preise. Krieg und Militär waren seiner Welt fern. Daran hat auch die Invasion Russlands in die Ukraine vor drei Jahren nichts geändert.
«Unendlich dankbar» sei er, sagt Pushkarev
Im Juni letzten Jahres holte ihn die Realität ein. Er stand vor der Wahl. Entweder, er registriert sich, um einen neuen Pass zu erhalten und riskiert damit den Einzug ins Militär. Aber auch die andere Option, ohne Pass weiterzuleben, veränderte für ihn sehr viel.
Nach Ohio konnte er nun nicht zurück. Er sass in Prag fest, aber auch dort konnte er nicht bleiben. In Tschechien hätte er höchstens ein Duldungsvisum bekommen, keine staatlichen Hilfen, keine Krankenversicherung, keine Arbeitserlaubnis.
Ein Freund seines Vaters stellte schliesslich den Kontakt zu Werner Schmitt her. Im August 2024 holte ihn dieser nach Bern. «Unendlich dankbar» sei er ihm dafür, sagt Pushkarev.
Ein Glücksfall für den jungen Pianisten
Schmitt ist ein Glücksfall für den jungen Pianisten. Als Cellist und ehemaliger Direktor der Musikschule «Konservatorium Bern» ist er in der Musikszene der Stadt und darüber hinaus bestens vernetzt.
Ausserdem pflegt er schon lange Kontakt in die Ukraine. Vor 25 Jahren gründete er «Legato», einen Verein zur Förderung des kulturellen Austauschs zwischen Bern und Odessa, der inzwischen «Ukraine Culture Network» heisst. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs hat der Verein sein Engagement für ukrainische Musikerinnen und Musiker noch einmal verstärkt.
CD mit Werken von Rachmaninow und Ravel
Alles, was er jetzt hat, verdanke er Schmitt, sagt Pushkarev. Er habe ihm geholfen, den Fokus trotz aller Schwierigkeiten und Sorgen wieder auf die Musik zu legen. Musik sei seine Sprache, damit könne er sich ausdrücken und die Herzen der Menschen erreichen. «So helfe ich meinem Land viel besser als an der Front», ist er sich sicher. Eine universellere Sprache des Friedens als die Kunst und die Musik gebe es nicht.
Am kommenden Mittwoch (19.02.) wird er das vor Publikum beweisen. Bei seinem zweiten Konzert in Bern, im «Yehudi Menuhin Forum», auch ein Projekt, das Schmitt initiiert hat. Ausserdem hat er kürzlich eine CD aufgenommen, mit Werken von Rachmaninow, Raff, Ravel und Sylwestrow. «Zwischen den Welten», lautet der Titel. Das passt, zu den Komponisten und auch zu Pushkarev.
Zu Beginn des Krieges war das Interesse grösser
Die Aufnahme der CD hat Schmitt vorfinanziert. Das Geld kommt durch den Verkauf wieder rein, hofft er. Einfach werde das allerdings nicht. «Das Publikum wird langsam müde», sagt Schmitt. Wenn sie im «Menuhin Forum» ukrainische Künstler vorstellten, sei das nicht mehr unbedingt erfolgreich. Zu Beginn des Krieges war das Interesse grösser.
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Pushkarev ist trotzdem froh, hier zu sein. Bern habe ihn gerettet, sagt er. Das Staatssekretariat für Migration hat sich seine Geschichte angehört und seine Situation individuell beurteilt, das weiss er zu schätzen. Er hat den «Aufenthaltsstatus F» bekommen, gilt als «vorläufig aufgenommener Ausländer», darf arbeiten und bekommt seit Januar Sozialhilfe.
Hoffnungen für die nahe Zukunft
Langfristige Pläne traut er sich nicht zu machen, dafür ist alles zu ungewiss. Aber Hoffnungen für die nahe Zukunft hat er. Dass er ein Papier bekommt, das ihn im Schengen-Raum reisen lässt, dass er sich als Pianist in der Schweiz etabliert und, vielleicht am meisten, dass er eine eigene Wohnung findet, auch wenn das gerade fast unmöglich erscheint. So viele Leute suchen ein Zimmer in Bern und Umgebung.
Zurzeit wohnt Pushkarev bei Schmitt und seiner Frau. «Sie haben mich aufgenommen wie ein Familienmitglied», sagt er, aber auf Dauer bleiben will er dort nicht. Vielleicht findet sich ja doch noch ein musikliebhabender Mensch mit Einliegerwohnung, Pushkarev gibt die Hoffnung nicht auf.
In die Ukraine drängt es ihn nicht zurück
In die Ukraine jedenfalls drängt es ihn nicht zurück, auch nicht, wenn der Krieg bald vorbei sein sollte. Auch seine Familie hat das Land verlassen. Sein Vater lebt schon lange in Lettland, seine Mutter und seine Schwester sind vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. In der Schweiz gefällt es Pushkarev sehr gut.
Seine Heimat aber, sagt er, ist die Musik. Wenn er ein Werk einstudiert, manchmal stundenlang, dann geht es ihm darum, es zu verinnerlichen, es zu einem Teil von sich selbst zu machen. Wenn Pushkarev das schafft, dann weiss er, wer er ist, und die, die ihm zuhören, spüren es auch.
Konzert von Nikolay Pushkarev
Am 19.02.2025 spielt Nikolay Pushkarev gemeinsam mit Stas Sagdeyev (Viola) und Hayk Sukasyan (Violoncello) im «Yehudi Menuhin Forum». Auf dem Programm stehen Werke von Johannes Brahms und Joachim Raff.
Der Eintritt ist frei, eine Kollekte wird erbeten.
Ort: Helvetiaplatz 6 in Bern.
Zeit: 19.30 Uhr
Die CD von Nikolay Pushkarev ist im Verlag Müller&Schade erschienen. Sie kostet CHF 20 und kann im Handel oder über den Onlineshop des Verlags bezogen werden.