Heidi Maria Glössner und Aaron Defant lesen die Bittschreiben an Papst Pius XII. Foto: Pia Neuenschwander

Heidi Maria Glössner und Aaron Defant lesen Bittschreiben verfolgter Jüdinnen und Juden an Papst Pius XII. Die Briefe gewähren Einblicke in die bürokratisierte Grausamkeit des Zweiten Weltkriegs und in die vatikanische Hilfsmaschinerie.

 

Annalena Müller

Knapp 50 Personen, darunter der apostolische Nuntius  Martin Krebs, haben den Weg in die Berner Heiliggeistkirche gefunden. Sie sind gekommen, um die Stimmen von Menschen zu hören, die vor den Nazis flohen. Und die sich in ihrer ausweglosen Situation an den Papst wandten.

Zeugnisse grösster Verzweiflung

Verfasst wurden die Bittbriefe in Momenten grösster Verzweiflung. Oft sind es «die letzten Schriften, bevor sie ermordet wurden», sagt Jana Haack von der Universität Münster. Haack ist Teil des Forschungsteams, das die knapp 10'000 Briefe, die heute in vatikanischen Archiven lagern, aufarbeitet. 

Papst Franziskus hat die Archive des Weltkriegspapsts, Pius XII., 2020 freigegeben. Seither läuft das Münsteraner Mammutprojekt. Szenische Lesungen, wie an diesem Abend in Bern, finden auch in Deutschland statt. Dort sind die Reihen gut gefüllt und die Veranstaltungen stehen, auch wegen der aktuellen Lage in Nahost, unter Polizeischutz. 

In Bern sieht es anders aus. Die meisten Anwesenden sind ältere Semester. Vor der Kirche nimmt niemand Notiz von der Veranstaltung. Drinnen lesen Heidi Maria Glössner und Aaron Defant ausgewählte Briefe jüdischer Menschen an Papst Pius XII. Christiane Wagner, Chef-Dramaturgin des Theaters an der Effingerstrasse, ordnet die Schicksale der Männer und Frauen ein, die sich an den Papst wandten.

«niente da fare»

Zum Beispiel die Geschichte von Alex Weissberger, einem getauften Juden, dem 1939 knapp die Flucht nach Paris gelang. Von dort schrieb Weissberger an den Papst und bat um ein Darlehen von 1000 Pfund. Ohne diese Summe würden die australischen Behörden ihm und seiner nicht-jüdischen Braut, Gerda Buchmann, die Einreise nach Australien verwehren.

Weissberger verfügt nur über 500 Pfund und fleht den Heiligen Vater an, ihm das Geld zu leihen, das er nur «vorzeigen muss und, das ich nach unserer Ankunft in Australien sofort wieder zurückgeben werde». Der Brief hat den Krieg im vatikanischen Archiv überdauert. Genau wie der Vermerk: n.d.f.: niente da fare (nichts ist zu machen). Der Vatikan hat den Brief direkt nach Eingang zu den Akten gelegt. Über das Schicksal von Alex Weissberger und Gerda Buchmann ist nichts bekannt. 

 


Berner Nuntius und der Rabbinatskandidat 

Aktiv wurde der Vatikan dagegen im Fall des 20-jährigen Rabbinatskandidaten Martin Wachskerz. Dieser war mit seinen Eltern und seinem Bruder Heinz nach Toulouse geflohen, wo der Familie die Deportation nach Auschwitz drohte. Ihre letzte Hoffnung: Asyl in der Schweiz. Nachdem der Antrag seiner Eltern abgelehnt worden ist, wendet sich der junge Mann am 20. Dezember 1942 an den Papst. In seinem Brief bittet er den Pontifex, sich bei der Schweizer Fremdenpolizei einzusetzen.

Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione beauftragt am 31. Dezember den Nuntius in Bern, Filippo Bernardini, sich des Falls anzunehmen. Bernardini spricht bei der Fremdenpolizei vor. Diese lehnt das Gesuch ab mit der Begründung, «dass die Familie keine Verwandten in der Schweiz habe und die Schweiz keine weiteren jüdischen Flüchtlinge aufnehmen würde, da es schon zu viele gäbe.» 

Im Mai 1943 informiert der Vatikan Martin Wachskerz über den Schweizer Entscheid. Für den Vater, Chaim Wachskerz, bedeuten die verschlossenen Schweizer Grenzen das Todesurteil. Er wird nach Auschwitz deportiert und ermordet. Martin, sein Bruder Heinz und die Mutter Czarna überleben die Shoah. Eine katholische Familie nahe Marseille versteckt sie auf ihrem Hof bis zum Kriegsende.

Bürokratie des Grauens

Die Briefe geben Einblicke in eine Bürokratie des Grauens. Die Bittstellenden flehen um Hilfe – bei der Gewährung von Transitvisen, um das rettende Schiff in Lissabon zu erreichen. Sie bitten um Geld, damit sie Fahrkarten kaufen können, deren Preise jeden Tag steigen. Sie bitten um Intervention bei der Polizei in Bern, in Rom, in Paris.

In schätzungsweise 60-70 Prozent der Fälle wird der Vatikan aktiv, so Jana Haack. Kontaktiert seine örtlichen Vertreter und setzt sich für die Bittschreiber:innen ein. Häufig scheitern die vatikanischen Vertreter selbst an der Bürokratie der Zeit. Zum Beispiel im Fall der getauften Jüdin Meta Sommerfeld. Zwei Tage bevor der Vatikan die Finanzierung ihrer Überfahrt nach Argentinien zusagt, verbieten die Nazis die Ausreise jüdischer Menschen unter 60 Jahren. Meta Sommerfeld ist 59. Sie wird im Dezember 1944 in Auschwitz ermordet. Es ist der kafkaeske Kampf ums Überleben. Den die Protagonist:innen häufig verlieren.

«Es wird nichts ändern»

Heidi Maria Glössner findet das Forschungsprojekt, das hinter der Lesung steht, sehr wichtig. Seit dem Schauspiel «Der Stellvertreter» (1963) von Rolf Hochhuth gilt Pius XII. als der Papst, der zum Holocaust geschwiegen hat. Das Forschungsprojekt zeige, «dass die Kirche durchaus aktiv war, auch wenn der Papst sich öffentlich nicht geäussert hat.»

Gornaya, Autorin des Stücks «Der Berner Prozess», beeindruckt die Perspektive der Einzelschicksale, «die in dieser hochkomplexen Maschinerie gefangen sind». Selbst wenn man es aus Nazi-Deutschland herausschaffte, war man nicht gerettet. Der Zugang zu Schiffen oder Asyl hing von anderen Staaten ab, die sich nicht selten taub stellten.

Kritischer äussert sich Corinne Merlin von der Jüdischen Gemeinde Bern. «Ich glaube nicht, dass das Forschungsprojekt neue Erkenntnisse über die Rolle der Kirche im Zweiten Weltkrieg ans Tageslicht bringen wird.» Die Schicksale der wenigen Geretteten bleiben am Ende kleine Episoden im grossen Grauen der Shoah.

 

Forschungsprojekt «Asking the Pope for Help»

Seit 2020 arbeitet ein Team der Universität Münster unter Leitung von Professor Dr. Hubert Wolf an dem Forschungsprojekt «Asking the Pope for Help». Dafür sichtet das insgesamt 30-köpfige Team aus Forschenden, Studierenden und Freiwilligen knapp 10'000 Bittbriefe, die in den kommenden Jahren ediert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollen.