Hans von Rütte setzt sich für die Fusion der reformierten Kirchgemeinden ein, Wolfgang Lienemann sieht vor allem ihre Nachteile. Fotos: Helga Leibundgut / zVg

Quo vadis, reformiertes Bern?

Streitthema Einheitsgemeinde: Lähmender Zentralismus oder mehr Energie für Quartierarbeit? Ein Pro und Contra.


Annalena Müller

Die evangelisch-reformierten Kirchgemeinden der Stadt Bern sollen zu einer einzigen Kirchgemeinde fusionieren. In Zeiten des Mitgliederrückgangs setze dieser Schritt Energien frei, die der Quartier-Kirchenarbeit zugute kämen, argumentiert das Pro-Lager. Im Gegenlager befürchtet man einen Zentralismus, der dem basisdemokratischen Denken der reformierten Gemeinden entgegenstehe. 

Auch für katholische Gemeinden ist das Thema «Fusion» immer wieder aktuell. Das «pfarrblatt» hat darüber mit Hans von Rütte, Präsident des Steuerungsgremiums für die Erarbeitung einer Fusionsvorlage, gesprochen. Wolfgang Lienemann, emeritierter Professor für Ethik der Universität Bern, ist gegen die Fusion. Wie von Rütte geht auch er davon aus, dass die Fusion zustande kommt.

 

Pro

Hans von Rütte: Fusion setzt Energien für Kirchenarbeit frei

Hans von Rütte setzt sich für die Fusion der reformierten Kirchgemeinden ein. Er ist Präsident des Kirchgemeinderats Nydegg und des Steuerungsgremiums für die Erarbeitung einer Fusionsvorlage.
 

«pfarrblatt»: Warum ist die Fusion der reformierten Kirchgemeinden zu einer Gesamtkirchgemeinde sinnvoll? 

Hans von Rütte: Diese Frage berührt die rechtliche Verfassung, die im 19. Jahrhundert geschaffen wurde und von Anfang an eine Fehlkonstruktion war. Es gibt eine Gesamtkirchgemeinde (GKG), die die Finanzen verwaltet und der die Liegenschaften gehören. Daneben existieren elf Quartier-Kirchgemeinden, die selbst kaum über eigene Mittel verfügen und ihre Ressourcen von der GKG zugewiesen bekommen. Diese Doppelorganisation ist heute dysfunktional: Die GKG verwaltet, während die Quartierkirchen die kirchliche Arbeit leisten sollen – doch letztlich trägt niemand die Verantwortung für das Ganze. Das Fusionsprojekt beseitigt diese Trennung und führt die Verantwortung in eine Hand.

 Es gibt auch kritische Stimmen. Die Kirchgemeinde Paulus in der Berner Länggasse hat Mitte März die Fusion abgelehnt. Wird sie dennoch zustande kommen?

von Rütte: Drei der elf Kirchgemeinden standen der Fusion kritisch gegenüber. Eine davon, Petrus, hat nun am 9. März mit deutlicher Mehrheit dafür gestimmt, während Paulus – nicht unerwartet – die Fusion abgelehnt hat. Die dritte, Bethlehem, stimmt im Mai ab, und dort ist das Ergebnis offen. Damit die Fusion scheitert, müssten mindestens vier Kirchgemeinden dagegen stimmen. Ich bleibe zuversichtlich, dass es nicht so weit kommt und die Fusion Realität wird. 

Geht die Quartierkirche durch die Fusion verloren? 

von Rütte: Nein, das denke ich nicht. Die zukünftigen Kirchenkreise behalten im Wesentlichen die gleichen Aufgaben. Da es sich um eine rechtlich-institutionelle Fusion handelt, wird sie den Kirchenkreisen sogar ermöglichen, sich stärker auf ihre Quartierarbeit zu konzentrieren, wenn sie es denn wollen. Gleichzeitig eröffnet sich die Chance, kirchliche Arbeit auch über die Quartiergrenzen hinaus in der gesamten Stadt zu leisten. Diese grössere räumliche Flexibilität entspricht den heutigen Gegebenheiten. 

Inwiefern? 

von Rütte: In der Kirchgemeinde Nydegg zum Beispiel leisten wir bereits Kirchenarbeit für ein städtisches Publikum. Das liegt unter anderem daran, dass unser Gemeindegebiet kein einheitliches Quartier umfasst. Was in Nydegg heute schon Realität ist, wird sich künftig in allen Kirchgemeinden entwickeln. Auch aus diesem Grund ist die Fusion sinnvoll: Sie schafft Synergien und baut Verwaltungshürden ab.
 

Contra


Wolfgang Lienemann: Fusion führt zu lähmendem Zentralismus

Wolfgang Lienemann sieht vor allem die Nachteile einer Fusion. Er ist emeritierter Professor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und war Mitglied des Kleinen Kirchenrats sowie (Co-)Präsident des Kirchgemeinderats Petrus.
 

«pfarrblatt»: Warum halten Sie die Fusion reformierter Kirchgemeinden zu einer Gesamtkirchgemeinde für wenig sinnvoll? 

Wolfgang Lienemann: Es gibt zwei Hauptargumente für die Fusion: eine effizientere Finanzverwaltung und ein stärkeres, weil gemeinsames Auftreten gegenüber den städtischen Behörden. Doch beides liesse sich auch ohne eine Fusion erreichen. Darüber hinaus überwiegen aus meiner Sicht die Nachteile. 

Zum Beispiel? 

Lienemann: Zum einen ist da die Grösse. Eine Kirchgemeinde mit 46’000 Mitgliedern ist in Europa äusserst selten. Reformierte Kirchgemeinden leben davon, dass ihre Mitglieder einander kennen und Kontakte pflegen. An die Stelle der bisherigen überschaubaren Gemeinschaften würde ein neuer Zentralismus treten. 

Aus katholischer Sicht ist Zentralismus nicht unbedingt ein offensichtliches Problem … 

Lienemann (lacht): Ja, aber Reformierte sind das nicht gewohnt. Ihr kirchliches Grundverständnis ist von der Basis her aufgebaut. Ein Zentralismus würde dazu führen, dass Kompetenzen gebündelt und Entscheidungen weit entfernt von den Gemeindemitgliedern getroffen werden. Und das wird demotivierend wirken. Auch wird der Mitgliederrückgang zu Sparmassnahmen führen. Diese werden nicht die Zentrale, sondern die Quartierkirchen treffen, also die entscheidende Arbeit mit den Menschen an der Basis.

Geht die lokale Verankerung der Kirchgemeinden durch die Fusion verloren? 

Lienemann: Das Risiko besteht, aber es ist zu früh, um hier Prognosen zu wagen. Es ist fraglich, ob sich die Menschen in den Quartieren weiterhin so aktiv am Gemeindeleben beteiligen, wenn ein Grossteil der Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen wird. 

Wie wird der Prozess Ihrer Meinung nach ausgehen? 

Lienemann: Ich neige zu drei Prognosen. Erstens: Die Fusion wird angenommen, allerdings bei einer sehr geringen Wahlbeteiligung. Ein Beispiel ist die Heiliggeist-Gemeinde, wo nur 27 Personen zur Abstimmung erschienen sind. In der Paulus-Gemeinde hingegen konnten rund 300 Stimmberechtigte mobilisiert werden, und dort gab es eine klare Ablehnung. Zweitens denke ich, dass Paulus eigenständig wird und dies finanziell gut verkraftet. Das wird hoffentlich zu einer kreativen Konkurrenz mit dem schwerfälligen Tanker der fusionierten Gemeinden führen. 

Und drittens? 

Lienemann: Ich rechne damit, dass es noch auf Jahre hinaus im Getriebe knirschen wird. Weil die rechtlichen und administrativen Anpassungen, die die neue Einheitsgemeinde vornehmen muss, zahlreiche Folgeprobleme und Konflikte mit sich bringen. Und ich fürchte, dass diejenigen, die die Fusion hauptsächlich forciert haben, für deren Folgen nicht mehr geradestehen müssen.