Maple leaves

Wer möchte schon die Farben missen?

Der Herbst verwöhnt uns und schickt uns in einen wahren Farbrausch hinein. Was aber, wenn die Farben, diese unverzichtbaren Begleiter im Leben, fehlen?


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Beatrice Eichmann-Leutenegger

Wer hat dies nicht schon erlebt? Man freut sich auf ein neues Reiseziel, nährt Vorstellungen. Und nun ist man angekommen, sieht sich um und ist grenzenlos enttäuscht. So geschehen im Sommer 1968 auf einer Tour durch Südböhmen.
Das tschechische Städtchen Český Krumlov (dt. Krumau) vermochte trotz seiner malerischen Lage in einer Moldauschleife wenig zu begeistern. Denn es regnete und regnete, und die Häuser in ihrem graubraunen Einerlei verstärkten die Melancholie, die sich wie ein Geschwür ausbreitete. Warum war man eigentlich hierher geraten, wo doch auch das Essen nicht mundete? 
Zähneknirschend beobachtete man den Kellner, der gemütlich über den Innenhof kam und die Speiseplatte auf dem Kopf balancierte, während der Regen auf den Braten prasselte.

Jahrzehnte später sah man ungläubig Bilder eines herausgeputzten Orts mit Häusern in allen Pastellfarben. Kaum zu glauben, doch Sie werden es erraten: Es war jenes verflixte Städtchen, das man einst auf den Mond gewünscht hatte. Busladungen von Tourist:innen ergossen sich in die schmalen Gassen der Top-Destination, die inzwischen ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen worden war.

 Eine ähnliche Verwandlung vollzog sich mit vielen anderen Orten des einstigen Ostblocks, so mit Dresden-Neustadt, das man einst als Stiefschwester der Dresdner Altstadt wahrgenommen hatte: eine einzige Misere in Grau, die Fensterscheiben zerbrochen, der Putz abgeblättert, die Strassen voller Löcher. Doch auch hier hatte sich Aschenputtel in eine Prinzessin verwandelt.
Auch im privaten Bereich spielen Farben eine prägende Rolle. Jeder weiss, wie sie den Charakter eines Raums bestimmen. Ein Zimmer in Grüntönen beruhigt und fördert das Denken. Ein Zimmer in Rot dagegen? Könnte den Erregungspegel in die Höhe treiben. 

Wie fad sind dagegen Hotelzimmer in ihrem ewiggleichen Beige und Grau, als ob ein Heer von Lemuren und Gespenstern hier nächtige. Allerdings gewinnt der Modeschöpfer Christian Dior selbst dem Grau positive Aspekte ab. In seinem Klassiker von 1954, «Das kleine Buch der Mode», kommentiert er sämtliche Farbtöne, lobt sie, schlägt Kombinationen vor oder räumt Risiken für die Trägerin ein.

 


Seit Langem kennt die Liturgie den Aussagewert der Farben. Weiss, Gelb, Grün, Rot, Violett, Schwarz bestimmen die im Kirchenraum verwendeten Textilien. Die Bedeutung knüpft an antike Traditionen an, wobei die reich entfaltete Symbolik ein weites Feld darstellt und den Rahmen dieses Streifzugs sprengt. Indessen sind die Farben auch eine Orientierungshilfe, weil sie den Ereignissen des Kirchenjahrs zugeordnet werden und Stimmungen vermitteln, die vom Jubel bis zur Busse oder zur Trauer reichen. 

Welche Erleichterung hat schon das Kind erfasst, wenn das Violett der Fastenzeit dem österlichen Weiss wich. Und wie bedrückend erschien ihm das Schwarz der Messgewänder bei Beerdigungen, umrauscht vom Chorgesang des «Dies irae dies illa». Wenn aber ein Bischof zur Spendung des Firmsakraments erschien, so leuchtete sein Rot in der Prozession auf, die durch die Herrengasse zur St. Martinskirche zog.

In Farben schwelgte schon die Elite in antiken Städten wie Pompeji oder Herculaneum. Gärten, Seen, Wälder, Paradiese mit Blumen, sprudelnden Brunnen und Amoretten zierten die Wände der Innenräume. Kühne Farben entzückten das Auge: ein sattes Ocker, ein warmes Rot, ein tiefes Blau, ein kräftiges Grün, ein strahlendes Gelb. Man konnte sich nicht sattsehen, während man politische Debatten führte. 

Eben hatte vor Kurzem, im Juni 79 n. Chr., Titus Flavius als Imperator den Cäsarenthron bestiegen. Zehn Jahre zuvor hatte er als militärischer Oberbefehlshaber den Jüdischen Krieg beendet, wobei Jerusalem und sein Tempel zerstört worden waren. Aus der Kriegsbeute finanzierten Titus und sein Geschlecht der Flavier die rege Bautätigkeit in Rom. Man wähnte sich in einem prosperierenden Zeitalter.
Aber es waren die Farben des Untergangs, welche in Pompeji betörten. An einem Herbsttag 79 n. Chr. begann es zu rumoren, der Lärm schwoll bedrohlich an, ebbte wieder ab. Der Vesuv regte sich wieder, hiess es, und manche verliessen Pompeji. Doch dann ereignete sich ein Ausbruch, der achtzehn Stunden dauerte, wobei die Forschung ein Datum im September oder Oktober annimmt. Schwefeldämpfe, Glutlawinen, Bimssteine richteten ein Inferno an. Eine bis 25 Meter hohe Asche- und Bimsschicht bedeckte und konservierte zugleich die Stadt am Golf von Neapel.

Erst im 18. Jahrhundert setzten die wissenschaftlichen Ausgrabungen ein. Unter dem Schutt stiessen die Archäolog:innen auf eine unerwartete Farbenpracht – ein Wunder antiker Freskenkunst, das bis heute in den Bann schlägt. Die Farbpalette erhielt einen Neuzugang: das pompejanische Rot, eine Farbe voller Wärme, als ob sie vor nahezu zweitausend Jahren die Sonne Kampaniens gespeichert hätte.