Sommerserie 2016 - Teil 3

Wie gleichst du dem Wasser!

Text: Marie-Louise Beyeler
Fotos: Pia Neuenschwander

Nein, ich bin nicht wegen Goethe hierher gekommen. Obwohl er vor genau 337 Jahren ins Lauterbrunnental gereist ist und das Staunen vor dem Staubbachfall im Gedicht „Gesang der Geister über den Wassern“ verewigte. Zusammen mit dem Berner Pfarrer Samuel Wyttenbach, der mit dem Büchlein „Kurze Anleitung für diejenigen, welche eine Reise durch einen Theil der merkwürdigsten Alpengegenden des Lauterbrunnethals, Grindelwalds und über Meyringen auf Bern zurück machen wollen“ trug der berühmte Dichter dazu bei, dass Reisefreudige aus nah und fern auf diese Gegend aufmerksam wurden. Noch war man noch nicht so weit, um Gipfel zu besteigen – man bewunderte die Bergwelt lieber vom Talboden aus. Heute ist Lauterbrunnen zu jeder Jahreszeit Ausgangspunkt in die Jungfrauregion, es wimmelt an diesem Sommermorgen von Touristen aus aller Welt. Sie sind grösstenteils jung und wollen beim Basejumpen, Gleitschirmfliegen oder Bergsteigen die abenteuerlichen Seiten der Bergwelt erleben. Ich mache es wie die ersten Touristen, bleibe im Tal und halte mich an jenes Programm, das der Name des Dorfes vorgibt: Im Tal gibt es tatsächlich lauter Brunnen. Was eher untertrieben ist, denn es sind 72 eindrückliche Wasserfälle.

Sprudelnde Pirouetten
Nur wenig ausserhalb des Dorfs stehe ich am Staubbachfall, wie Goethe beeindruckt beim Anblick der Wassermassen, die von der überhängenden, fast 300 Meter hohen Felswand in die Tiefe stürzen. „Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser“, dichtete er hier. Die Trümmelbachfälle auf der anderen Talseite sind nicht von weitem sichtbar, sondern im Innern des Bergs „Schwarzer Mönch“ versteckt. Der Trümmelbach entwässert das Gebiet von Eiger, Mönch und Jungfrau, im Lauf der Jahrtausende hat er eine Klamm, eine enge Schlucht in den Berg gegraben. Bis zu 20‘000 Liter Wasser stürzen sich pro Sekunde über die zehn Wasserfälle durch die Schlucht. Über einen Lift oder zu Fuss gelangt man hinein; ich steige die etwa 600 Meter hoch über Waldwege und Treppen, durch Galerien und Tunnel. Das Naturwunder ist grossartig, ich bewundere aber auch jene, die es wagten, Wege, Stufen und Durchgänge in diese Schlucht zu bauen, um das Spektakel zugänglich zu machen. Goethe war dieser Einblick noch nicht möglich, wer weiss, was er hier gedichtet hätte…

Die zehn Wasserfälle sind ein einzigartiges, wunderbares Schauspiel. Schäumend und tosend, quirlend und reissend schiesst der Bach durch enge Durchgänge, fällt über Wände herab, zischt an Felsbrocken hoch um gleich in die Tiefe zu stürzen. Über einen Balkon kann man dem „Corkscrewer“, dem Wasserfall namens Zapfenzieher zuschauen, hier macht der Bach in einem engen Durchgang quasi sprudelnde Pirouetten, bevor er dem Blick entschwindet. In den Nieselwolken um die Wasserfälle herum fällt Morgensonne durch die Öffnungen in den Felswänden. Könnte ich dichten, würde ich wohl wie Goethe am Staubbachfall versuchen, das Spiel von Wasser und Licht in Poesie zu fassen. Viele der Besuchenden fotografieren und halten die Szenerie in Bildern fest. Mir bleibt das Staunen…

Bilderbuchwelt
Zurück aus dem kühlen Wasserspektakel gibt’s im Café Trümmelbach zu essen und zu trinken. Das Restaurant ist schön renoviert, am Selbstbedienungsbuffet gibt’s kaltes und warmes Essen und ein so fantastisches Kuchenbuffet, dass dies allein die Fahrt hierher rechtfertigen würde... Mit den Köstlichkeiten auf dem Tablett geht’s dann auf die grosszügige und stimmig eingerichtete Terrasse. Und jetzt: Herz, was willst du mehr? Über die blühenden Sommermatten hinweg geht der Blick hinauf zur Alpenkette, am blauen Himmel schweben luftige Wölklein und ein paar Gleitschirme. Um mich herum sind immer noch lauter fotografierende Menschen, ein älteres Paar aus Belgien bittet mich, sie vor dem Hintergrund der noch weissen Berggipfel abzulichten, zwei Koreanerinnen versuchen, die prächtigen Kuchenstücke auf den Tellern, ihre Gesichter und dazu noch die Berge auf ein Selfie zu kriegen. Ich habe keineswegs den Eindruck, mich in einem „Theil der merkwürdigsten Alpengegenden“ zu befinden, wie Pfarrer Wyttenbach das Lauterbrunnental einst beschrieben hat, sondern einfach einen Katzensprung weg vom Mittelland und der Stadt eine Auszeit zu geniessen. In einer wunderbaren Landschaft mit lauter Brunnen. Es lohnt sich.

Informationen - Wasserfälle im Lauterbrunnen-Tal

Staubbachfall
Am Dorfrand von Lauterbrunnen, Aufstieg zum Staubbachhubel möglich.

Trümmelbachfälle
3 km ausserhalb von Lauterbrunnen, Postautohaltestelle, gratis Parkplatz. Aufstieg durch die Schlucht zu den zehn Wasserfällen. Der Eintritt kostet für Erwachsene 11 Franken, für Kinder 4 Franken, Gruppenpreise ab 10 Personen auf Anfrage.
Öffnungszeiten: April bis November täglich 9-17 Uhr, Juli und August 8.30-18 Uhr.
Der hohen Lärmbelastung wegen ist der Zutritt Kindern erst ab sechsjährig erlaubt; Hunde müssen beim Eingang warten.

Themenweg „Wasserfälle“
Schöne Rundtour von Stechelberg aus zu den Holdrifällen, den Schmadribachfällen und dem Talbachfall; die Wanderzeit beträgt ca. 1,5 Stunden.

Berner Wanderbuch 3097 Berner Oberland, Verlag Berner Wanderwege Karte Swisstopo 2520T  

www.truemmelbachfaelle.ch
www.lauterbrunnen.ch
www.stechelberg.ch