Von Rittern und Riesen
«Er liegt da unten», sagt sie und tippt mit dem Fuss auf eine der schweren Jurasandstein-Platten. Sie: Annemarie Rohrbach, in Pieterlen reformierte Kirchgemeinderätin und für die Kirchenführungen zuständig. Er: der Riese von Pieterlen.
Wir stehen in der schönen reformierten Martins-Kirche, einem Bijou aus dem 11. Jahrhundert, das über dem Dorf Pieterlen am Jurasüdfuss thront. Bei der letzten grossen Renovation in der Mitte des 20. Jahrhunderts fand man in einer Gruft unter dem Chorboden zahlreiche Knochen, Zeugen der hier höchst wahrscheinlich bereits vor dem Kirchenbau im 12. Jahrhundert vorhandenen Kult- und Grabstätte.
Ein sorgfältig auf eine Steinplatte gebettetes Skelett weist auf einen sehr grossen Menschen hin – man nennt ihn hier den Riesen von Pieterlen. Wenn der erzählen könnte!
Edle Herren und verkaufte Leute
Er würde uns an diesem heissen Sommernachmittag in den angenehm kühlen Kirchenraum hinein bitten: Wir werden empfangen vom Spiel des Sonnenlichts auf dem Sandsteinboden, von spannenden Zeitzeugen und tausend Jahren Geschichte.
„Schaut,“ könnte der Riese sagen und mit seinem langen Finger auf den Taufstein aus Muschelkalk und das einzige noch vorhandene Apostelbild zeigen. Das waren noch Zeiten: Die edlen Herren von Pieterlen bauen auf dem Burghügel am Jurahang im 11. oder 12. Jahrhundert eine Kirche und lassen sie dem Heiligen Martin von Tours weihen.
1228 wird der Bau im Kirchen-Verzeichnis des Bistums Lausanne erstmals erwähnt. Dann treffen zwei Umstände aufeinander: Die Edlen von Pieterlen sterben aus, das Bistum Basel weitet seinen Einflussbereich aus und setzt die Herren von Eptingen-Wildenstein als Vögte in Pieterlen ein. Zur Vogtei gehören auch die Dörfer Meinisberg, Romont und Reiben. Bis zum Einmarsch der Franzosen im Jahr 1798 ist die Meierei Pieterlen ein Teil der Herrschaft Erguel. Der Riese könnte auch einiges erzählen von den Tätigkeiten der Edlen und auf etwas besondere Reiseandenken hinweisen: Die Eptingen-Herren liessen sich am Heiligen Grab in Jerusalem zu Rittern schlagen und bezeugten diese Ehre den Daheimgebliebenen durch das Aufmalen von roten, noch heute sichtbaren Jerusalemkreuzen im Chor der Kirche.
In der Eptingen-Zeit wird die Kirche umgebaut, die halbrunde Apsis wird durch den rechteckigen Chor ersetzt; aus dieser Epoche stammen das Kreuzrippengewölbe, der Priesterdreisitz, der Reliquienschrein und die Grabplatte mit dem Wappen der von Eptingen-Wildenstein.
Und wieder geht ein Ruck durch die Geschichte: Die Besitzer verkaufen anfangs des 15. Jahrhunderts die Kirche, die Dorfbewohner (!), das Land und die Wälder ans Kloster Bellelay im Jura. Damit werden die Pieterler „Gotteshausleute“, sind dem Kloster eigen und haben wohl ebenso wenig zu sagen wie zuvor. Für das kirchliche Leben entsendet das Kloster Leutepriester nach Pieterlen.
Im Reformationsjahr 1528 nimmt Pieterlen mit Biel zusammen den neuen Glauben an, allerdings behält das Kloster Bellelay bis ins 1798 die Patronatsrechte für die Kirche Pieterlen und besoldet die Pfarrer. Alte Rechte oder frühe Ökumene?
Sponsoren
Annemarie lächelt: Ja, die Besitzverhältnisse unserer Kirche waren immer sehr kompliziert. Und der Riese von Pieterlen würde beifügen: Kompliziert sicher, und auch ziemlich bewegt.
Er könnte uns vor den Abendmahlstisch führen und leise „do ut des“ murmeln: Der Steinmetz und Baumeister Onophrion Nieschang aus Biel durfte zahlreiche gute Aufträge für das Kirchspiel Pieterlen ausführen, was ihn veranlasste, bei einer Kirchenrenovation anfangs des 17. Jahrhunderts den heute noch in voller Pracht vorhandenen Tisch zu spenden.
Ein weiterer Sponsor war zwei Jahrhunderte später der Bieler Industrielle Sigmund Heinrich Wildermeth: Er finanzierte im 19. Jahrhundert einen weiteren Umbau der Kirche inklusive der drei Kirchenfenster, welche der in der Romantik führende Glasmaler Jakob Röttinger aus Zürich schuf.
Die Fenster waren lange verschollen, zwei davon mit den Themen „Christi Geburt“ und „Karfreitag“ kamen wieder zum Vorschein, wurden aufwendig restauriert und befinden sich heute an der Südwand des Chors. Das Ehepaar Wildermeth stiftete später auch das Kinderspital in Biel.
Das vom Uhrensteinfabrikant Ernst Lüthi finanzierte Auferstehungs-Fenster im Zentrum der Chorwand wurde 1941 eingesetzt. Ja, der Riese hat Recht: In der Geschichte dieser kleinen Kirche gibt es viel Bewegtes und Bewegendes…
Er entschwindet jetzt wieder in seine Gruft, Annemarie und ich sitzen noch eine Weile im Kirchenbank, um wieder in der Gegenwart anzukommen.
Die Kirchgemeinderätin ist mit „ihrer“ Kirche seit Kinderzeit verbunden. Sie weiss noch um den düsteren, „holzigen“ Raum, erinnert sich an die grosse Renovation 1956/57, den damaligen umtriebigen Pfarrer Roder und die Begeisterung der Pieterler über die neue, helle Kirche.
Staunen können heutige Besuchende über die Zeitreise intra muros, aber auch über die Gegend um die Kirche herum: Den etwas steilen „Chileflueweg“ hinauf geht’s weiter zum „Gygerstüdeli“, einem spektakulären Aussichtspunkt in der Westerfluh.
Unterwegs kann man schon in einem Holzpavillon am Weg verschnaufen und einen ersten Blick ins Weite geniessen. Schön ist die rund zweistündige Wanderung über Romont hinauf zum Bözingenberg, der ebenfalls mit einem phantastischen Weitblick und (Mittwoch bis Sonntag!) einem schönen Restaurant wartet.
Vom Bözingenberg kann die Wanderung auf einem anderem, sanft abfallenden Waldweg in rund einer Stunde zurück nach Pieterlen gehen oder in etwas weniger Zeit direkt hinunter nach Biel.
Ein paar Tage später fahre ich auf der Autobahn von Solothurn nach Biel, sehe zum weissen Kirchturm von Pieterlen hoch und staune einmal mehr, wie schnell und achtlos man vorbeisaust an den faszinierenden Welten am Wegrand.
Es lohnt sich, hin und wieder schlafende Riesen wecken zu gehen…
Quellen
Heinz Rauscher, Pieterlen und seine Nachbarn. Hornerblätter 2002, 2004, 2005
Pfr. Peter Frey und Alfred Rentsch, Geschichte der Martinskirche Pieterlen, Broschüre 2008/2017,
Beide Publikationen liegen in der Kirche auf.