Abt Jean Scarcella ist trotz einer Rüge aus dem Vatikan wieder im Amt. Foto: Bernard Hallet

Als wäre nichts gewesen: Jean Scarcella wieder Abt von St. Maurice

Jean Scarcella hat sein Amt als Abt von St. Maurice wieder aufgenommen. Ihm wird sexuelle Belästigung vorgeworfen. Der Vatikan hat den Abt im Oktober 2024 offiziell gerügt.

 

Annalena Müller

Die Mitteilung kam nicht unerwartet. Und doch ist sie ein Rückschlag für den angestrebten Kulturwandel im Umgang mit sexuellem Missbrauch. Jean Scarcella, der sich als Abt von St. Maurice seit 17 Monaten im Ausstand befand, hat nach Angaben der Abtei am Sonntag (9.3.) seine Funktion wieder aufgenommen. Der Vatikan hatte Scarcella im Oktober 2024 offiziell gerügt, nachdem gegen ihn eine kanonische Untersuchung wegen sexueller Belästigung geführt worden war.

Schritt mit Ankündigung

Die Rückkehr Scarcellas in sein Amt kommt nicht überraschend. Bereits nach dem Erhalt der vatikanischen Rüge im Oktober 2024 hatte er angekündigt, diesen Schritt gehen zu wollen. Das hatte im kirchlichen Umfeld zu reden zu geben. Denn die Rüge des Abtes war die schärfste der insgesamt drei Rügen, die der Vatikan im Oktober gegen Mitglieder der Schweizer Bischofskonferenz aussprach. Obschon Scarcella laut Vatikan weder Missbrauch noch Grenzverletzungen «im eigentlichen Sinne bewiesen werden konnten», so herrschte in der Abtei doch ein ambivalenter und unangebrachter Umgang der Kleriker, hiess es in dem Dokument aus Rom («une attitude ambiguë et non conforme à la prudence attendue pour des clercs dans les relations interpersonnelles»). 

Im Oktober auf eine mögliche Rückkehr von Jean Scarcella angesprochen, sagte RKZ-Generalsekretär Urs Brosi gegenüber dem «pfarrblatt»: Man erwarte, dass die Betroffenen die Urteile aus Rom ernstnähmen. Befragt zu St. Maurice bekräftigte Brosi damals, dass die RKZ davon ausgehe, dass Jean Scarcella die entsprechenden Schlüsse ziehen und nicht in sein Amt zurückkehren werde. Nicht allein wegen der ihm vorgeworfenen Grenzverletzungen, sondern auch, weil er als Abt die Verantwortung trage für eine jahrelange Kultur des Übergriffs. Diese sei sowohl im Bericht aus Rom beanstandet als auch von der Walliser Staatsanwaltschaft festgestellt worden, so Brosi damals. Zu der heutigen Mitteilung der Abtei wollte Brosi nicht Stellung nehmen.

Rückendeckung aus Rom

Jean Scarcella hat sich für seine Rückkehr ins Amt Rückendeckung aus Rom geholt. Laut der heutigen Medienmitteilung reisten Abt Jean Scarcella und der Apostolische Administrator der Abtei St. Maurice, Jean-Michel Girard, am 13. Februar 2025 nach Rom. Dort trafen sie den zuständigen Präfekten des Dikasteriums für die Bischöfe, Robert Francis Prevost, und baten ihn um Wiedereinsetzung Scarcellas und Beendigung der Verwaltung der Abtei durch Girard.

Dies wurde vom Dikasterium in einem Schreiben, datiert auf den 6. März 2025, gewährt. Übermittelt wurde der Brief durch den in Bern ansässigen Apostolischen Nuntius. Scarcella selbst sieht sich von allen Anschuldigungen reingewaschen, wie er in der Medienmitteilung der Abtei schreibt. 

«Ich nehme mit Gelassenheit das Vertrauen des Heiligen Stuhls entgegen, der mir die Erlaubnis erteilt, mein Amt als Abt wieder aufzunehmen, und danke meiner Gemeinschaft für ihre unerschütterliche Unterstützung. Ich bitte die Gläubigen des Abteigebiets um Verständnis dafür, wie beschämt ich bin, Gegenstand eines Verfahrens gewesen zu sein, das Zweifel und Verdacht aufkommen liess. Ich hoffe, dass die Dynamik des Jubiläums der Hoffnung, das wir gemeinsam mit der Weltkirche feiern, uns helfen wird, die Einheit unserer lokalen Kirche auf der Grundlage unseres gemeinsamen Glaubens an Jesus Christus, den Sieger über den Tod, zu bewahren.

Rückschlag für Kulturwandel

Zunächst wollte sich niemand direkt zur Rückkehr Scarcellas äussern. Aber so viel ist klar: kirchenintern dürfte sie für grossen Unmut sorgen. Die Abtei St. Maurice war in den vergangenen Monaten immer wieder Gegenstand medialer Berichterstattung. Der Grund: Gemeinschaftsmitglieder, denen Übergriffe zur Last gelegt werden, anerkennen diese nicht und verlangen, wieder in ihre Ämter eingesetzt zu werden. Zuletzt am 27. Februrar als der Chorherr Roland Jaquenoud seine Wiederaufnahme in seine beruflichen Funktionen als Lehrer am Collège de Saint-Maurice forderte. Hier sah sich der Kanton gezwungen einzuschreiten und Jaquenoud eine klare Absage zu erteilen.

Der von führenden Kirchenkreisen angestrebte Kutlurwandel und die Versuche, durch verschiedene Präventionsmassnahmen verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, erfährt mit diesem Schritt einen Rückschlag. Jean Scarcella ist zum einen als Territorialabt von St. Maurice Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz und gehört damit zu den führenden Kirchenmännern des Landes. Zum anderen wurde er von Rom im Oktober eben nicht reingewaschen, sondern offiziell gerügt. Eine kanonische Rüge ist in etwa mit einer Abmahnung im Schweizer Arbeitsrecht vergleichbar. 

Wie Kirchenrechtler auf Nachfrage des «pfarrblatts» im Oktober bestätigten, kennt Rom – vereinfacht gesagt – drei Antworten auf kanonische Voruntersuchungen: Freispruch, Rüge oder Amtsenthebung. Entsprechend spricht das zuständige Dikasterium sie nicht leichtfertig aus, sondern nur, wenn etwas Erhebliches vorgefallen ist. Das zeigen verschiedene andere Fälle, in denen Rom trotz aufwendiger Voruntersuchungen nicht gerügt hat.

Die Untersuchung gegen Jean Scarcella war das Resultat von Vorwürfen, die Nicolas Betticher in einem Schreiben an Nuntius Martin Krebs im Mai 2023 erhoben hat. Betticher, heute Pfarrer der Berner Pfarrei Bruder Klaus, war früher Generalvikar des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg. 

In einem Communiqué bestätigt Betticher im Oktober, dass er das Ergbenis der Untersuchung zur Kenntnis nehme. Und schreibt weiter: «Jeder gerügte Bischof wird sich die Frage stellen müssen, wie er weiterhin sein Amt im Licht der Wahrheit und der Gerechtigkeit ausüben kann.» Für eine Stellungnahme war Betticher bis zur Veröffentlichung nicht zu erreichen.