«Die Schweiz ist keine Insel der Glückseligen.» Foto: Pia Neuenschwander

Andrea Gmür: «Abschreckung ist mit Christentum vereinbar»

Für Aufrüstung, gegen die Neutralitätsinitiative und einem herzlichen Streitgespräch mit Schwager, dem Bischof von Basel, nie abgeneigt. Ein Gespräch mit Sicherheitspolitikerin Andrea Gmür.

 

Annalena Müller

Ständerätin Andrea Gmür (60) ist dieser Tage in den Medien sehr präsent. Anfang des Jahres galt sie als Kandidatin für das Bundesrat-Ticket der Mitte. Die geopolitischen Unsicherheiten machen die Sicherheitspolitikerin zu einer gefragten Gesprächspartnerin. Die Schwägerin des Basler Bischofs weiss, auch Christ:innen können sich vor der Weltlage nicht verstecken. 

«pfarrblatt»: Warum haben Sie sich im Januar gegen die Bundesratskandidatur entschieden?

Andrea Gmür: Für mich ist das Amt der Ständerätin das schönste Amt. Trotzdem habe ich eine Kandidatur kurz ernsthaft in Erwägung gezogen, als mein Favorit, Martin Candinas, abgesagt hatte. Aber schlussendlich bin ich glücklich, da, wo ich bin. Es ist eine sehr individuelle Entscheidung, aber ich schätze meine persönliche Freiheit. Daher wurde für mich klar, dass das Amt nicht mit meiner Lebensplanung vereinbar wäre. 

Hat es eine Rolle gespielt, dass es für Viola Amherd als Frau im VBS besonders schwer war?

Gmür: Nein, das hat keine Rolle gespielt. Es ist im VBS sicherlich für eine Frau schwieriger als für einen Mann. Verteidigung und Militär sind eine männerdominierte Welt. Aber Bundesrätin Viola Amherd hat sehr viel erreicht: International wurde die Zusammenarbeit intensiviert, das Militärbudget erhöht, ein Staatssekretariat für Sicherheitspolitik eingeführt. Unter ihrer Führung wurden generell Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit massiv gestärkt. 

In Europa stehen die Zeichen auf Aufrüstung und Zusammenrücken. Europäische Staaten wollen ihre Verteidigungsausgaben auf bis zu 3,5 Prozent des BIP hochfahren. In der Schweiz tut man sich mit einem Prozent schwer und die Neutralitätsinitiative hat an der Urne eine realistische Chance. Sind wir für die geopolitische Zeitenwende bereit?

Gmür: Nein, sind wir nicht. Die Schweizer Neutralität ist für mich unbestritten. Aber sie muss im Dienste des Völkerrechts, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Friedens stehen. Ich lehne die Neutralitätsinitiative der SVP klar ab. Es ist wichtig, dass wir auch künftig einen Aggressor benennen. Die Schweiz kann nicht einfach den Kopf in den Sand stecken und so tun, als ob uns die ganze Welt rundherum nichts anginge. Daher war es auch richtig, dass wir die wirtschaftlichen Sanktionen der EU gegen Russland übernommen haben.

 

Überhaupt müssen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten alles tun, um die Ukraine zu unterstützen, die unsere Werte vertritt. Wenn die Ukraine fällt, ist nichts gewonnen. Ich bin überzeugt, Putin würde weiter Richtung Westen vorstossen wollen. Das müssen wir mit allen Mitteln verhindern. Innerhalb der Nato-Staaten spricht man von einem dritten Weltkrieg. In der Schweiz ist noch nicht einmal das Bewusstsein angekommen, dass die internationale Lage sehr gefährlich ist – auch für uns. Wir sind keine Insel der Glückseligen. 

Was sollte die Schweiz machen?

Gmür: Wie alle anderen europäischen Länder wird auch die Schweiz bedeutend mehr in die eigene Sicherheit und die internationale Zusammenarbeit investieren müssen. In den letzten drei Jahrzehnten wurden in ganz Europa die Sicherheitsausgaben massiv heruntergefahren. Niemand, auch ich nicht, konnte sich vorstellen, dass wir in eine Situation kommen, in der wir eventuell bereit sein müssen, uns gegen einen Aggressor zu verteidigen. Aber die Ereignisse zeigen: Wir haben uns geirrt. 

Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Gmür: Wir müssen nur über unsere Grenzen schauen. Unsere Nachbarn planen, drei bis fünf Prozent ihres BIP in die Verteidigung zu investieren. Finnland und Schweden sind 2023 beziehungsweise 2024 der NATO beigetreten. Weil sie als Russlands Nachbarn Angst haben, die nächsten zu sein. Dazu kommt jetzt die Politik der neuen US-amerikanischen Administration. Ich verstehe vor diesem geopolitischen Hintergrund unseren Gesamtbundesrat nicht, für den die Finanzen weiterhin absolute Priorität haben; stattdessen sollte er als oberste Priorität die Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit verfolgen. 

Auch für die Kirchen ist die Weltlage überfordernd. Das Christentum steht für Gewaltfreiheit und Geschwisterlichkeit. Politisch stehen die Zeichen auf Aufrüstung und das Recht des Stärkeren. Welche Antworten kann eine christlich geprägte Partei wie Die Mitte den Menschen geben?

Gmür: Unsere Armee ist und bleibt eine reine Verteidigungsarmee. Wir sind und bleiben ein neutrales Land. Aber auch wir müssen uns verteidigen können, sollten wir darauf angewiesen sein. Es ist eine Illusion, zu glauben, dass nichts passiert, wenn man den Kopf in den Sand steckt. Auch für Christ:innen. Aber es ist selbstverständlich, dass ich es auch lieber anders hätte.

Bischof Felix Gmür ist Ihr Schwager. Sie sind Präsidentin der Sicherheitspolitischen Kommission. Diskutieren Sie manchmal über politisch-moralische Themen? 

Ja, das tun wir.

Sind Sie bei diesen Themen einer Meinung?

Gmür: (lacht) Nein, wir sind nicht immer einer Meinung. Aber ich glaube, das ist auch nicht nötig. Es ist ein Qualitätsmerkmal einer Beziehung, dass man sich uneinig sein kann und sich trotzdem noch versteht. Und wir verstehen uns sehr gut und können doch recht direkt miteinander sein. Ich kenne Felix seit fast vier Jahrzehnten. Er ist für mich in erster Linie mein Schwager und nicht der Bischof von Basel. 

In der katholischen Kirche ist das Gleichnis der Bergpredigt vielen Gläubigen näher als die Lehre vom gerechten Krieg, die Staaten und Völkern das Recht zuerkennt, sich gegen Angriffe zu verteidigen. Wo stehen Sie und wo steht Ihr Schwager in dieser Frage?

Gmür: Das müssen Sie ihn selbst fragen. Ich möchte nicht das Sprachrohr meines Schwagers sein. Ein Krieg ist nie gerecht und hinterlässt immer Elend, Zerstörung und unzählige unschuldige Opfer. Artikel 51 der Uno-Charta, die alle Uno-Mitglieder unterzeichnet haben, stellt aber klar fest, dass jeder Staat im Falle eines bewaffneten Angriffs das Recht auf Selbstverteidigung hat. Ausdrücklich kann dieses Recht auch kollektiv ausgeübt werden, also im Verbund mit anderen Staaten. Als Sicherheitspolitikerin und Christin unterstütze ich dieses Recht. 

Welche Rolle spielt Ihr Glauben in dieser von Unsicherheit geprägten Zeit? 

Gmür: Mein Glaube hat mir immer Kraft gegeben. Aufgrund meines Glaubens setze ich mich für gewisse Werte ein, wie zum Beispiel Freiheit, Solidarität oder Verantwortung. Einen Krieg gilt es immer mit allen Mitteln zu verhindern. Überhaupt ist es wichtig, alles zu unternehmen, damit es gar nicht so weit kommt. Abschreckung ist daher wichtig. 

Gibt es etwas, das Ihnen dieser Tage Hoffnung gibt? 

Gmür: Was die ganzen Konfliktherde und die Weltlage anbelangt, bin ich im Moment wenig zuversichtlich. Aber uns geht es immer noch bestens. Wir leben in einer direkten Demokratie, geniessen Wohlstand und haben einen Sozialstaat, der denjenigen Menschen hilft, die es benötigen. Wir haben die Kirchen, die viel Gesamtgesellschaftliches leisten. Vieles davon könnte der Staat gar nicht übernehmen. All das gibt mir auch Hoffnung.