
Soldatenfriedhof in Lwiw in der Ukraine im Mai 2023. Foto: zVg
Drei Jahre Krieg in der Ukraine: «Krieg dem Kriege und Friede auf Erden»
Im Osten der Ukraine wiederholt sich das Leid der Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Zum dritten Jahrestag des russischen Angriffskriegs schaut das «pfarrblatt» in die Ukraine und die Vergangenheit.
Annalena Müller
«Du sollst nicht töten! hat einer gesagt. Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.» Will das niemals anders werden?», fragte Kurt Tucholsky unter dem Eindruck des gerade zu Ende gegangenen Ersten Weltkriegs 1919.
Das Grauen der Gegenwart
Die Medien vergleichen den Ukraine-Krieg regelmässig mit dem ersten industriellen Massaker der Moderne. Sie schreiben von einer «Materialschlacht», einem «Abnutzungs-» und «Grabenkrieg. Satellitenbilder zeigen kilometerlange Schützengräben. Die Grauen der Vergangenheit sind in der Ukraine gegenwärtig.
Waren es im ersten Weltkrieg die Granaten und Maschinengewehre, die den Krieg zum anonymen Kampfgeschehen machten, sind es heute die Drohnen. «Die Front ist ein Käfig, in dem man nervös warten muss auf das, was geschehen wird. Über uns schwebt der Zufall», so beschrieb Erich Maria Remarque das Vegetieren in den Schützengräben in dem Literatur-Klassiker «Im Westen nichts Neues».
Der Zufall entscheidet
Das Bild dürfte nicht nur auf die Westfront im Ersten Weltkrieg passen, sondern auch auf die Ostfront der Ukraine. Damals wie heute bleibt der «Feind» meist unsichtbar, über Leben und Tod entscheidet der Zufall.

Natürlich gibt es unzählige Unterschiede zwischen den beiden Kriegen, die ein ganzes Jahrhundert trennt. Einer ist die eindeutige völkerrechtliche Lage. Russland führt einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Sowohl das Völkerrecht als auch die katholische Lehre anerkennen das Recht auf Verteidigung (Katechismus der Katholischen Kirche 2307). Trotzdem hadern wir in Europa und besonders in der Schweiz mit der Frage, wie das angegriffene Land unterstützt werden kann oder soll.
Wollen den Krieg vergessen
Drei Jahre nach der Invasion in die Gebiete nördlich der seit 2014 besetzten Krim diskutiert die Schweiz darüber, den «Schutzstatus S» für ukrainische Flüchtlinge abzuschaffen. Wir haben uns an den Krieg in Europa gewöhnt und ignorieren ihn so gut wir können. Für Jona Neidhart ist das anders. Er ging 2022 freiwillig an die Front, um an der Seite der ukrainischen Verteidiger:innen zu kämpfen.

Der Schweizer Jona Neidhart weiss nicht, wie viele Menschen er getötet hat. Aber er ist überzeugt, das richtige zu tun. Wir haben ihn vor seiner Rückkehr an die Front getroffen. Der Pianist Nicolay Pushkarev ist dankbar, dass er im sicheren Bern sein kann. An der Front hätte er keine Chance, sagt er. Mit der Luzerner Theologin Jacqueline Keune haben wir über Hoffen in Zeiten der Hoffnungslosigkeit gesprochen.
Gleich wo Sie bei der Frage Ukraine persönlich stehen, den Schlussworten des eingangs zitierten Gedichts können wohl alle zustimmen. 1919 wünschte sich Kurt Tucholsky, dass die Menschheit doch noch lernte: «Krieg dem Kriege! Und Friede auf Erden.»
Die Hoffnung stirbt bekanntlich als letztes.
Krieg dem Kriege
Kurt Tucholsky (1919)
Sie lagen vier Jahre im Schützengraben.
Zeit, grosse Zeit!
Sie froren und waren verlaust und haben
daheim eine Frau und zwei kleine Knaben,
weit, weit –!
(…)
Sie sahen die Kameraden fallen.
Das war das Schicksal bei fast allen:
Verwundung, Qual wie ein Tier, und Tod.
Ein kleiner Fleck, schmutzigrot –
und man trug sie fort und scharrte sie ein.
Wer wird wohl der nächste sein?
Und ein Schrei von Millionen stieg auf zu den Sternen.
Werden die Menschen es niemals lernen?
Gibt es ein Ding, um das es sich lohnt?
Wer ist das, der da oben thront,
von oben bis unten bespickt mit Orden,
und nur immer befiehlt: Morden! Morden! –
Blut und zermalmte Knochen und Dreck …
Und dann hiess es plötzlich, das Schiff sei leck.
Der Kapitän hat den Abschied genommen
und ist etwas plötzlich von dannen geschwommen.
Ratlos stehen die Feldgrauen da.
Für wen das alles? Pro Patria?
Brüder! Brüder! Schliesst die Reihn!
Brüder! das darf nicht wieder sein!
Geben sie uns den Vernichtungsfrieden,
ist das gleiche Los beschieden
Unsern Söhnen und euern Enkeln.
Sollen die wieder blutrot besprenkeln
die Ackergräben, das grüne Gras?
Brüder! Pfeift den Burschen was!
Es darf und soll so nicht weitergehn.
Wir haben alle, alle gesehn,
wohin ein solcher Wahnsinn führt –
Das Feuer brannte, das sie geschürt.
Löscht es aus! Die Imperialisten,
die da drüben bei jenen nisten,
schenken uns wieder Nationalisten.
Und nach abermals zwanzig Jahren
kommen neue Kanonen gefahren. –
Das wäre kein Friede.
Das wäre Wahn.
Der alte Tanz auf dem alten Vulkan.
Du sollst nicht töten! hat einer gesagt.
Und die Menschheit hörts, und die Menschheit klagt.
Will das niemals anders werden?
Krieg dem Kriege!
Und Friede auf Erden.