Die katholischen Schulen sind der einzigen Ort im Libanon, an denen christliche und muslimische Kinder als Freund:innen in Frieden zusammenleben. Foto: zVg

Kirche in Not: «Die Menschen im Libanon haben schreckliche sechs Jahre hinter sich»

Marielle Boutros ist Projektverantwortliche von ACN Kirche in Not im Libanon und betreut dort ein Projekt, das mit 213 christlichen Schulen die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen aller Religionen verbessern möchte. Die Katholische Kirche Region Bern unterstützt das Projekt mit ihrem Hilfspaket für die Christen im Nahen Osten.


Christian Geltinger* 

Wir erleben gerade eine grosse Umbruchsituation im Nahen Osten. Wie ist die Lage für die Menschen vor Ort?

Marielle BoutrosDie Menschen im Libanon haben die schlimmsten sechs Jahre ihres Lebens hinter sich. Das libanesische Volk ist erschöpft. Der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel im Gaza, der sich vom Südlibanon auf das ganze Land, insbesondere auf Beirut und das Bekaa-Tal ausweitete, ist nur die Spitze des Eisberges.

Sie sprachen von einer jahrelangen Belastungsprobe. Welche Ereignisse gingen dem voran?

BoutrosEs begann am 17. Oktober 2019, als die Revolution die Hoffnung auf Stabilität, Wirtschaftsreformen und das Ende der Korruption weckte. Leider führte dies zu einer Sackgasse im Land, und die Krise vertiefte sich, so dass der Libanon wirtschaftlich komplett kollabierte. 
 


Was bedeutete das für die Bevölkerung?

BoutrosDie Menschen verloren ihre Ersparnisse in einer Art Schneeballsystem, das von den Banken inszeniert wurde. Die Mittelschicht verschwand, und viele wurden in die Armut getrieben. Die Inflation schoss in die Höhe und überstieg im Verlauf der Krise 200 Prozent. Gleichzeitig griff die COVID-19-Pandemie um sich. 

Die Serie der Schicksalsschläge riss nicht ab.

BoutrosGenau, am 4. August 2020 zerstörte die Explosion im Hafen von Beirut die Hälfte der Hauptstadt. Diese Tragödie forderte Menschenleben, zahllose Verletzte und liess die Bevölkerung am Boden zerstört zurück, mit wenig Hoffnung für die Zukunft. Auch das Erdbeben vom 7. Februar 2023 in der Türkei erschütterte die libanesische Bevölkerung. Viele flohen aus ihren Häusern, liessen ihr einziges Hab und Gut (oder ihre Mietwohnungen) zurück und verbrachten mehrere Tage auf der Strasse.

Kann ein Mensch, kann ein Land das überleben, ohne vollkommen zu verzweifeln?

BoutrosDie Widerstandsfähigkeit der Libanesen ist bekannt, und sie sind es gewohnt, Krisen und Verzweiflung zu überstehen. Es ist jedoch klar, dass sie müde sind und auf den kleinsten Hoffnungsschimmer warten, an den sie sich klammern können. Die Menschen kämpfen darum, über die Runden zu kommen, sie versuchen, das Schulgeld für ihre Kinder zu bezahlen, Medikamente zu kaufen und andere Grundbedürfnisse zu decken. Dies setzt sie unter enormen Druck, so dass einige von ihnen überlegen, das Land zu verlassen. Trotz der Herausforderungen lieben die Libanesen ihr Land und möchten dort bleiben, aber der ständige Kreislauf der Krisen zermürbt sie.

Gibt es eine Kluft zwischen dem politischen Handeln der Verantwortlichen und dem Denken der einfachen Menschen?

BoutrosJa, es gibt oft eine grosse Kluft zwischen den Worten und Taten der politischen Führer und den Wünschen der Bevölkerung. Der Libanon ist ein wunderschönes Land mit reichhaltigen Ressourcen, die jedoch für persönliche Bereicherung, Korruption und politische Agenden ausgebeutet werden, anstatt der Bevölkerung zugute zu kommen. Die Entfremdung zwischen der Führung und den Bedürfnissen der Bevölkerung hat zu weit verbreiteter Frustration und Desillusionierung beigetragen.

 


Was sind die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen?

BoutrosDie Menschen haben sowohl unmittelbare als auch langfristige Bedürfnisse. Kurzfristig benötigen sie lebenswichtige Dinge wie Medikamente, Strom, Zugang zu Bildung und angemessene Gehälter. Langfristig brauchen sie vor allem politische Stabilität, die Schaffung von Arbeitsplätzen, eine wirksame Staatsführung und ein Ende der Korruption. Die Lösung dieser grundlegenden Probleme würde wiederum dazu beitragen, viele der anderen Probleme des Landes zu lösen.

Krisen von aussen sind oft ein Verstärker für schwelende Konflikte. Wie ist die Situation für die Christ:innen vor Ort?

BoutrosDie christlichen Gemeinschaften im Libanon sind von der anhaltenden Krise stark betroffen. Die Kirche im Libanon spielt eine wichtige Rolle und verfügt über zahlreiche Einrichtungen, die die Gläubigen unterstützen. Für die Christ:innen sind diese Einrichtungen ein Eckpfeiler, der ihnen hilft, im Land verwurzelt zu bleiben. 

Wie können die Christ:innen vor Ort helfen, Barrieren abzubauen?

BoutrosDie Kirche gibt ein Beispiel für Solidarität und kümmert sich um das geistliche Leben, Notfallprojekte, Schulen, Krankenhäuser, Altenheime und vieles mehr.

Sie begleiten ein Projekt von 213 katholischen Schulen im Libanon. Warum ist es wichtig, dass Kirche und Not diese Schulen mit Lehrerstipendien und Schulgeld für Kinder unterstützt?

BoutrosDie Krise an den katholischen Schulen hat wichtige Auswirkungen auf den kirchlichen Auftrag im Nahen Osten. Erstens sind die katholischen Schulen einer der einzigen Orte im Libanon, an denen christliche und muslimische Kinder als Freund:innen in Frieden zusammenleben, was zu einer Verbesserung der interreligiösen Beziehungen im Lande beiträgt. Zweitens würde der Zusammenbruch eines starken Netzes katholischer Schulen eine Lücke schaffen, in die andere einspringen könnten, insbesondere Privatschulen ohne oder mit nur eingeschränkter geistlicher Ausbildung. Das birgt das Risiko einer Islamisierung des Bildungssystems und des Ausschlusses anderer Gruppen. Der Libanon hat aber gerade jetzt die Möglichkeit, ein Modell zu sein für die Koexistenz aller Bevölkerungsgruppen.

 

*Christian Geltinger ist Leiter Kommunikation des Pastoralraums Bern.