Pater Antoine Abi Ghanem. Foto: Ruben Sprich
Pater Antoine: «Es braucht eine Kultur des Kompromisses»
Pater Antoine Abi Ghanem verhandelt für den Heiligen Stuhl an der UNO über Abrüstung. Aus seiner Wahlheimat Bern beobachtet der Libanese die Instabilität im Nahen Osten genau.
Christian Geltinger*
An dem Tag, an dem ich Antoine Abi Ghanem in seinem Büro bei der Berner Paroisse catholique treffe, laufen parallel in seinem Heimatland Libanon die Präsidentschaftswahlen ab. Nicht allein aus Empathie für seine Landsleute verfolgt er aufgeregt das Geschehen. Der Pater des libanesischen Maronitischen Ordens, der als Priester die Paroisse und die Pfarrei Dreifaltigkeit unterstützt, ist seit über 25 Jahren im Auftrag des Heiligen Stuhls für die UNO im Bereich Abrüstung und Sicherheitsfragen diplomatisch aktiv. Ein Zufall will es, dass man von seinem Büro aus einen direkten Blick auf die amerikanische Botschaft hat, wo das gehisste Sternenbanner eine Mischung aus nationalem Selbstbewusstsein und internationaler Bedeutsamkeit verbreitet.
Multi-religiöses Land
Seit 2022 hat der Libanon kein reguläres Staatsoberhaupt, eine fatale Situation vor dem Hintergrund der jüngsten kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah sowie des politischen Umbruchs in Syrien. Gemäss einem Proporz nach religiösen Gesichtspunkten muss der libanesische Präsident Christ-Maronit sein, der Regierungschef sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident schiitischer Muslim.
Was sich angesichts der instabilen politischen Lage als schier unüberwindbare Hürde erwiesen hat, ist gleichzeitig die Stärke dieses Systems, so Pater Antoine: «Man kann die Situation im weitesten Sinne mit der Schweiz vergleichen. Das System der Proporz-Demokratie ermöglicht eine Beteiligung aller Kräfte am politischen Handeln.»
Nationalstaat hat ausgedient
Die Idee des Nationalstaats, wie sie von Europa und Amerika in viele Teile der Erde importiert worden ist, hat aus der Sicht des diplomatischen Beobachters ausgedient: «Ein zentralistisch ausgerichtetes Staatsystem vergleichbar mit Frankreich funktioniert schlichtweg nicht in Ländern, in denen verschiedene Ethnien, Religionen, Sprachen, etc. zusammenleben. Und auch in den westlichen Demokratien müssen wir beobachten, dass sich die klaren politischen Lager immer mehr auflösen.»
Pater Antoines Antwort auf die Herausforderungen der Zeit ist eine neue «Kultur des Kompromisses». Das gilt für manche westlichen Demokratien ebenso wie für die Länder des Nahen Ostens. Politik, so die nüchterne Einschätzung des Diplomaten, sei immer interessengeleitet. Das träfe für die Länder des Westens ebenso zu wie für die einzelnen Länder, Ethnien und Gruppierungen im Nahen Osten.
Religion wird instrumentalisiert
Die Religion spiele dabei oft nur eine untergeordnete Rolle, sie werde vielmehr häufig nur instrumentalisiert, um bestimmte Bevölkerungsgruppen hinter sich zu bringen und klein zu halten, sei es im Irak unter Saddam Hussein, sei es bei Assad oder sei es bei den islamistischen Vereinigungen.
Ein Neuanfang im Nahen Osten kann nur gelingen, wenn die Vielfalt aller Bevölkerungsgruppen im demokratischen Prozess abgebildet ist und die Interessen von Minderheiten entsprechend geschützt werden. Demokratie bedeute nicht automatisch das Recht der Mehrheit. Insofern sei der Libanon ein gutes Beispiel für die Region.
Eine grosse Chance für die Region sieht Pater Antoine in der Schwächung Irans im Zuge der Schwächung von Hamas und Hisbollah. Eines muss jedoch klar sein: Eine zentrale Voraussetzung für Frieden in der Region ist eine gerechte Perspektive für die Palästinensische Bevölkerung.
Steiniger Weg zu Frieden
Der Weg hin zu einer Befriedung der Region sei noch lange und intensiv. Wichtig ist Antoine, dass die Menschen ihn selbst erkennen und gehen. Zu oft sind Versuche, von aussen stabile politische Verhältnisse zu schaffen, gescheitert. Flankierend sei es jedoch wichtig, die demokratischen Kräfte vor Ort zu unterstützen und die humanitäre Situation der Menschen zu verbessern. Wohnen, Gesundheit und Bildung sind hier elementare Grundbedürfnisse, um die Menschen zu stärken und in ihrer Heimat zu halten.
Auf die Frage, ob der Fokus nicht zu eng sei, wenn die Katholische Kirche Region Bern von einem Hilfspaket für die Christ:innen im Nahen Osten spricht, entgegnet Pater Antoine, dass die Christ:innen im Nahen Osten eine wichtige Scharnierfunktion übernehmen. Das Überleben von den christlichen Bevölkerungen im Nahen Osten ist auch wichtig für die politische, soziale, kulturelle Zukunft der Region. Die christlichen Kirchen betreiben zahlreiche Schulen im Libanon, in vielen mehrheitlich nicht-christliche Schüler:innen Zugang zu Bildung haben. Und selbstverständlich werden in kirchlich getragenen Krankenhäusern alle Menschen betreut.
Das Gespräch mit Pater Antoine gibt bei allem Realismus für die Schwierigkeit und Komplexität der Situation Zuversicht. Und als ich mich zurück in meinem Büro an den Computer setze, kommt die Nachricht über den News-Ticker, dass der Libanon mit «bemerkenswerter Einigkeit» nun tatsächlich einen neuen Präsidenten gewählt hat.
*Christian Geltinger ist Leiter Kommunikation Pastoralraum Bern
Im Dezember 2024 hat der Kleine Kirchenrat der Katholischen Kirche Region Bern aus Anlass des politischen Umbruchs in Syrien die Gelder für ein Hilfspaket in Höhe von CHF 250.000 gesprochen. Mit dem Geld wird unter anderem das Hilfswerk «Kirche in Not» (ANC) unterstützt, das Kindern im Libanon den Zugang zu Bildung ermöglicht. Mehr dazu unter: www.kirche-in-not.ch