Papst Pius IX. Bild: vatican news
Vom Volksglauben zum Dogma: die Unbefleckte Empfängnis
Am 8. Dezember feiert die römisch-katholische Kirche das Hochfest der unbefleckten Empfängnis Mariens. Mit der Erhebung zum Dogma beging Papst Pius IX. 1854 einen Traditionsbruch. Ein Blick in die Geschichte.
Annalena Müller
Am Hochfest der unbefleckten Empfängnis feiert die römisch-katholische Kirche nicht die Empfängnis Jesu, sondern die seiner Mutter Maria. Als einziger Mensch wurde Maria frei von Erbsünde empfangen. Der Weg vom frommen Volksglauben zum offiziellen Kirchendogma war lang – und sehr umstritten.
Mittelalterlicher Volksglaube
Seit dem Mittelalter trieb die Frage Gläubige um: Wie war es möglich, dass Jesus ohne Erbsünde geboren wurde, wenn seine Mutter ein normaler und damit sündiger Mensch war? Da nach christlicher Lehre jeder Mensch sündig geboren wird, müsste auch Maria sündig sein. Würde das nicht bedeuten, dass auch Jesus sündig auf die Welt kam?
Für die meisten Theologen war die Antwort auf diese Frage eindeutig. Nach mittelalterlichem Verständnis von Fortpflanzung braucht es den Samen des Mannes zur Weitergabe der Erbsünde. Da Jesus aber durch den Heiligen Geist empfangen wurde, war die Frage nach der Sündhaftigkeit Jesu ein theologisches Nicht-Problem, selbst wenn Maria sündig war.
Volksglaube gegen Theologie
Ausserhalb der universitären Elfenbeintürme etablierte sich die gleichwohl die Vorstellung, dass Maria ohne Erbsünde geboren wurde. Für den Kirchenlehrer Thomas von Aquin (†1274) war hingegen klar: Maria wurde mit Erbsünde geboren. «Wenn Maria ohne Erbsünde empfangen worden wäre, müsste sie nicht durch Christus erlöst werden. Und dann wäre Christus nicht der allgemeine Erlöser der Menschheit».
Über Jahrhunderte existierten Volksglaube und Theologie nebeneinander. Die unbefleckte Empfängnis wurde vielerorts als Hochfest begangen, war aber theologisch nicht anerkannt. Dies änderte sich mit Papst Pius IX. (1846-1878), einem glühenden Marienverehrer.
Papst Pius IX. und das Dogma
Pius IX. gab ein theologisches Gutachten in Auftrag, um die Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis vorzubereiten. Allerdings befanden die Experten, eine Dogmatisierung sei nicht möglich, da keine der von der Kirche anerkannten Offenbarungsquellen eine Grundlage dazu böten.
Die Bibel äussert sich nicht zur Empfängnis Mariens. Die theologische Tradition hingegen – die Kirchenlehrer und andere wichtige Denker der Kirche – hatte sich seit dem Mittelalter mit der Frage befasst. Viele, wie Thomas von Aquin, hatten die Idee klar abgelehnt. Eine Dogmatisierung der «frommen Meinung» war daher nach geltender Praxis unmöglich, so die Gutachter.
Auf dem Weg zur päpstlichen Unfehlbarkeit
Papst Pius IX. aber wollte das Dogma unbedingt – und beschloss dessen Verkündigung. Als erster Pontifex überhaupt stellte er damit das päpstliche Lehramt über die theologische Wirkungsgeschichte. Am 8. Dezember 1854 verkündete Pius die unbefleckte Empfängnis als Dogma und damit als verbindlichen Glaubenssatz.
Der Kirchenhistoriker Hubert Wolf sieht in diesem Schritt nicht nur einen Ausdruck von Pius’ Marienverehrung. Vielmehr sei das Dogma eine Möglichkeit gewesen, «seine Unfehlbarkeit praktisch auszuprobieren». 1870 liess Pius IX. die päpstliche Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanischen Konzil zum Dogma erheben. Seither kennt die römisch-katholische Kirche neben Bibel und Tradition auch das päpstliche Lehramt als Offenbarungsquelle. Aber das ist eine andere Geschichte.