St. Martin teilt seinen Mantel. Gemälde von Louis Anselme Longa. Bild: Wikimedia Commons.
Wie St. Martin Bischof wurde – und wie nicht
Martin von Tours ist einer der bekanntesten katholischen Heiligen. Zum Bischof von Tours wurde er durch die Wahl des Volkes – gegen den Willen der Bischöfe. Synodale Wahlen waren in der Frühkirche normal.
Annalena Müller*
«Ich geh’ mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir. Dort oben leuchten die Sterne und unten, da leuchten wir.» So beginnt eines der bekanntesten deutschen Kinderlieder zu St. Martin. Am 11. November feiern die Kleinsten in katholischen Regionen die Geste des Soldaten Martin, der seinen Mantel mit dem Schwert teilte und damit einen Bettler vor dem Erfrieren rettete, mit Laternenumzügen.
Teil des abendländischen Kulturguts
Die St-Martins-Geschichte dürfte neben der Weihnachtsgeschichte die bekannteste aus dem christlichen Repertoire sein. Ob gläubig oder nicht, sie gehört zum abendländischen Kulturgut. Überliefert ist die Martinslegende nicht in der Bibel, sondern in der Vita Sancti Martini, verfasst von Sulpicius Severus (†429) am Anfang des 5. Jahrhunderts.
Ein Blick in die Lebensbeschreibung des berühmten Heiligen lohnt sich. Neben der Mantel- und Bettler-Episode findet man dort nämlich auch spannende Perspektiven auf aktuelle kirchenpolitische Fragen. Zum Beispiel, wie Bischofswahlen in der frühen Kirche abliefen. Da hatten nämlich weder Domherren (die gab es noch nicht), noch der Papst (den gab es so auch noch nicht), das letzte Wort. Sondern die Gläubigen des Bistums. Aber der Reihe nach.
Heiligkeit trotz Heidentum
Laut Sulpicius Severus wird Martin (†397) in eine wohlhabende römische Familie geboren. Er findet früh zum Christentum und verlangt bereits im Alter von zehn Jahren die Taufe; mit zwölf führt er das asketische Leben eines Mönches in der Einsamkeit. Seine nicht-christlichen Eltern akzeptieren das nicht. Der Vater zwingt Martin zum Soldatendienst. In dieser Phase seines Lebens teilt Martin in Gallien, dem heutigen Frankreich, seinen warmen Mantel mit dem Bettler.
Es ist der einzige Gebrauch des Schwertes, den Martin für gut befindet. Als Christ weigert er sich, die Waffe gegen andere zu erheben – und erregt damit den Zorn seines Vorgesetzen, der ihn in vorderster Reihe in die Schlacht schickt. Dank Gottes Schutz überlebt Martin und darf daraufhin das Heer verlassen. Er begibt sich zu Bischof Hilarius von Poitiers (†367) und lebt bei dem Heiligen. Hilarius möchte Martin zum Diakon weihen, doch der lehnt ab. Martin bleibt ungeweihter Mönch – also kirchenrechtlich Laie – und lebt in asketischer Armut in einem selbstgebauten Einzelkloster.
Ein «Laie» wird Bischof
Sein Nicht-Weihestand tut Martins Wundertätigkeit keinen Abbruch. Bei einer Reise in die Heimat bekehrt er seine Mutter und erweckt zwei Tote zum Leben. Den ersten, weil ihm die ewige Verdammnis droht – der Mann war kurz vor seiner Taufe verstorben. Der zweite ist ein Selbstmörder, dem Martin neues Leben und neuen Lebensmut schenkt. Solche Wunder machten Martin, wenig überraschend, bei seinen Zeitgenossen berühmt.
Die Folge des Ruhms: «Ungefähr zur selben Zeit wurde er auf den bischöflichen Stuhl von Tours verlangt», schreibt Sulpicius Severus. «Allerdings war es kein Leichtes, ihn seinem Kloster zu entreissen.»
Vom Volk geliebt, vom Bischof verachtet
Mithilfe einer List locken Bürger Martin schliesslich in die Bischofsstadt Tours. Dort hatte sich «eine unglaublich grosse Menge aus dieser Stadt wie auch aus den benachbarten Ortschaften zur Bischofswahl eingefunden. Ein Verlangen, ein Wunsch, eine Überzeugung beseelte sie alle, Martinus verdiene am meisten die bischöfliche Würde; glücklich sei die Kirche, die einen solchen Oberhirten erhalte.»
Nicht alle zur Bischofswahl Versammelten schätzten den Eremiten, dessen asketisches Leben sich in seiner Erscheinung zeigte. «Einige Laien und besonders mehrere Bischöfe, die zur Einsetzung des Oberhirten herbeigerufen waren, widersetzten sich gewissenlos. Sie sagten, Martinus sei eine verächtliche Persönlichkeit, der bischöflichen Würde sei nicht wert ein Mann von so unansehnlichem Äussern, mit so armseligen Kleidern und ungepflegtem Haar.»
Volk setzt sich durch
Diese Einwände lassen die Versammelten nicht gelten: «Indes das Volk bekundete gesünderen Sinn und lachte über ihre Torheit» Es kommt zum Machtkampf zwischen Volk und Bischöfen – den das Volk Gottes für sich entscheidet. Dabei hilft ihnen der Heilige Geist. Die Versammelten lesen einen zufällig ausgewählten Vers des Psalmenbuchs vor, der die Wahl Martins als den richtigen Kandidaten in den Augen aller bestätigt.
Die Gegner müssen einlenken und Martin empfängt – als bis dahin Nicht-Geweihter – die Bischofsweihe. Auch in den Jahren als Bischof von Tours vollbringt Martin weiter gute Taten. Er kombiniert die Pflicht des Bischofsamtes – also die des Hirten – mit der Strenge und Askese des Eremitentums. Sulpicius Severus beschreibt in der 25 Seiten umfassenden Vita das Leben eines perfekten Heiligen, der selbst solche Widersprüche in sich vereinen kann.
Nun ist die Vita Sancti Martini eine Hagiographie, also eine Heiligenbiografie, mit den für die Textgattung typischen Merkmalen. Martins Heiligkeit bereits im Kindesalter, seine Wundertätigkeit und seine moralische Festigkeit findet man in vielen mittelalterlichen Heiligenlegenden. Sein asketisches Mönchtum ist ein Charakteristikum spätantiker Hagiographien. Trotz solcher «Bausteine» gewährt der Text spannende Einblicke in Praktiken und Selbstverständnis der frühen Kirche. In diesem Fall in die Bischofswahl – bei der eine Partizipation der Laien selbstverständlich war. St. Martin und seine Vita als Vorbild für die Ideen der Weltsynode? Ein amüsanter Gedanke, der auf einer langen Kirchentradition fussen würde.
Hier geht es zur Martinslegende.
*Dieser Text erschien auch auf feinschwarz.net