
Mehr als 700 Journalist:innen sind neu im Vatikan akkreditiert. Foto: Hendro Munsterman
Am Krankenbett des Papstes hält die Welt den Atem an
Papst Franziskus liegt seit drei Wochen im Krankenhaus. Der Vatikankorrespondent Hendro Munsterman gibt Einblicke in den Alltag der Journalisten vor Ort.
Hendro Munsterman*
Was für eine Achterbahnfahrt! «Ich kann es nicht mehr ertragen», schreibt mir eine englischsprachige Journalistin nach einer weiteren unerwarteten Wendung der Ereignisse. Sie wurde von ihrem Nachrichtensender nach Rom geschickt, um zwei Tage nach der Einlieferung des Papstes ins Krankenhaus zu berichten. Sie nennt es «einen Crashkurs in Vatikan-Beobachtung».
700 neue Akkreditierungen
Seit seiner Einlieferung ins Krankenhaus (14.2.) wurden über 700 Journalisten beim Vatikan akkreditiert. Hinzu kommen Vatikan-Korrespondenten wie ich, die regelmässig aus Rom berichten. Drei Wochen später ist die Lage noch immer so unklar wie am Anfang. Wird der 88-jährige Franziskus überleben? Und wenn ja, wird er das Heilige Jahr als Papst beenden? Oder wird er zurücktreten und einem jüngeren Nachfolger Platz machen?
In den letzten drei Wochen haben die aus vielen Ländern eingeflogenen Vatikan-Korrespondenten eine Achterbahn der Gefühle erlebt. «Ich kann nachts nicht schlafen», sagt ein italienischer Kollege. Ich kenne es. Ich selbst wache jeden Morgen zwischen fünf und halb sechs spontan auf. Denn der Vatikan hat durchblicken lassen, dass «sollte etwas Ernstes passieren», ausgewählte Journalisten über den geschlossenen Telegram-Kanal der vatikanischen Pressestelle informiert würden – auch nachts. Meine ständige Sorge: Ist der Piepton laut genug, dass ich aufwache?
Alles dreht sich um den Papst
Seit dem 14. Februar hatten ich und viele meiner Vatikan-Korrespondenten hier in Rom keinen Ruhetag. Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht sitzen wir im vatikanischen Pressezentrum oder stehen auf dem Hügel neben dem Gemelli-Krankenhaus mit Blick auf die päpstliche Krankenstation im zehnten Stock. Wir verfolgen das Geschehen um einen Papst, der ums Überleben kämpft, sich aber nicht zeigt.

In Rom hiess es früher: «Der Papst ist erst krank, wenn er tot ist.» Damals traten Päpste kaum in der Öffentlichkeit auf, und man erfuhr nie etwas über ihren persönlichen Zustand. Dieses Sprichwort trifft heute nicht mehr zu. Der Vatikan kommuniziert offener denn je über einen erkrankten Papst, dessen Genesung alles andere als sicher ist. Doch diese Offenheit hat Grenzen.
Journalistische Dreifaltigkeit
Unsere Tage verlaufen im Rhythmus dreier Momente: um Viertel nach acht und halb zwölf morgens sowie um sieben Uhr (oder etwas später) abends. Besonders der Abendtermin führt zur grössten Spannung und Emotion.
Unser Tag beginnt mit einer Nachricht über den Telegram-Kanal, irgendwann zwischen acht und halb neun. Es sind nur ein paar Worte über den Papst und wie er die Nacht verbracht hat. Es sind meist nur wenige Worte.
Das vatikanische Pressebüro begann fünf Tage nach Franziskus' Einlieferung mit dem Versand der Nachricht. Denn nachts kursieren in den sozialen Medien die wildesten Gerüchte über den Papst. Und das wollte man im Keim ersticken, flüstert ein Mitarbeiter der vatikanischen Kommunikationsabteilung. Die Nachricht sollte raus: Der Papst lebe noch.
Jedes Wort wird interpretiert
Im Presseraum nennen wir diese sehr kurzen Nachrichten «Variationen über ein Thema». Der Hauptteil lautet immer: «Der Papst hatte eine ruhige Nacht». Aber jeden Tag werden zwei oder drei Worte hinzugefügt, andere ersetzt; manchmal fehlt ein Wort. Jede einzelne wird mit der Beflissenheit analysiert, als wäre es biblische Exegese. Ist darin eine versteckte Botschaft? Warum wird nicht erwähnt, dass der Papst gefrühstückt hat?
Die meisten Journalist:innen strömen unmittelbar nach dem morgendlichen Versand ins Pressezentrum. Dabei müssen sie oft einen penetranten Uringeruch ertragen; der Vatikan weigert sich, die Obdachlosen auszuweisen, die jede Nacht vor der Haustür des Zentrums schlafen.
Der zweite Akt: Matteo Bruni
Dann warten wir auf den zweiten Akt. Matteo Bruni, Sprecher des Vatikans, betritt um halb zwölf den Presseraum. Er sitzt am Kopfende des Tisches. Zwischen dreissig und fünfzig Journalist:innen versammeln sich um ihn. Viele zeichnen seine Worte mit ihren Handys auf. Andere haben ihre Laptops aufgeklappt.

Bruni spricht umfangreich, jedoch ohne viel Inhalt preiszugeben. Es handelt sich um Hintergrundinformationen, die nicht veröffentlicht werden. Sie sollen den Journalist:innen helfen sollen, das Geschehen zu verstehen. Und sie davon abzuhalten, Spekulationen zu verbreiten.
In Italien funktioniert nicht nur der Journalismus anders. Auch die Position des Papstes ist eine andere. In Frankreich wurde der König enthauptet, dem allmächtigen Präsidenten jedoch eine Art königlicher Status verliehen. In Italien allerdings, wie auch in Deutschland, verfügt der Präsident über keinerlei Macht. Dort fungiert der Papst als eine Art nationale Vaterfigur. Über jede noch so kleine Neuigkeit wird ausführlich berichtet.
Das Warten am Nachmittag
Nach dem Gespräch mit Bruni beginnt das Warten. Das ist der Moment, in dem man mit den Kollegen an der Kaffeemaschine oder im nahegelegenen Restaurant darüber nachdenkt, was das alles bedeuten könnte. Es werden die grossen Fragen diskutiert. Kann ein Papst im Krankenhaus zurücktreten? Wie würde das organisiert werden? Was passiert, wenn die Ärzte zu dem Schluss kommen, dass eine weitere Behandlung keinen Sinn mehr hat? In welcher Beziehung steht dies zur katholischen Lehre zu diesem Thema?
Manche Kollegen laufen mit Lateinbüchern unter dem Arm herum. Es gibt ein rotes Buch mit Regeln und Liturgie für die Beerdigung eines Papstes. «Das ist der Bestseller dieser Tage», sagte man mir in der Buchhandlung. Man sieht das weisse Buch mit den Regeln für die papstlose Zeit. Und ein dunkelgrünes Buch mit Regeln für ein Konklave. Wir sind auf alles vorbereitet.
Fact-Checking und Spekulieren
Jeder und jede von uns versucht, Informationen zu sammeln. Und natürlich versuchen wir auch, alle Falschmeldungen zu überprüfen, die über die sozialen Medien verbreitet werden. Dies kommt leider auch von einigen Kollegen aus dem Presseraum. Oder über Boulevardzeitungen wie den Schweizer «Blick» oder die französische «Paris Match». Bisher hat sich fast alles, was auf «X» und anderswo, insbesondere in konservativen katholischen Kreisen, eifrig verbreitet wurde, als falsch herausgestellt.

Der Vatikan selbst gibt keine Stellungnahme zu Telefonaten des Papstes mit der Gemeinde im Gazastreifen ab. «Das ist eine private Initiative des Papstes», heisst es inoffiziell. Doch diese Anrufe waren während langer Wochen das einzige Lebenszeichen des Papstes. Bis der Vatikan am 6. März eine Audiobotschaft des Papstes an die Gläubigen veröffentlicht.
Das Gesundheitsbulletin am Abend
Zwischen halb sieben und halb acht abends erscheint Bruni erneut. «Je später er kommt, desto grösser ist das Risiko schlechter Nachrichten», bemerkt ein deutscher Kollege. Die Zahl der Journalist:innen am Abend ist grösser als am Mittag. Der Raum ist zu klein, viele Kollegen verfolgen die abendlichen Pressekonferenzen daher über die Lautsprecher im grossen Nebenraum.
Doch manchmal bleibt es lange still. Bis plötzlich Telefone und Laptops piepen. «Es ist da!», ruft immer jemand. Gemeint ist das tägliche medizinische Bulletin. Dann wird es mucksmäuschenstill. Alle schauen auf ihre Bildschirme. Es sind jeweils nur wenige Sätze, voller italienischer Fachbegriffe. Der einzige immer wiederkehrende Satz lautet: «Die Prognose der Ärzte bleibt zurückhaltend.»
Wieviele Informationen wollen wir?
Wenn im Bulletin weder Atemstillstand noch andere Anfälle erwähnt werden, geht eine Welle der Erleichterung durch den Raum. «Keine schlechten Nachrichten», flüstern die Kollegen untereinander. Doch manchmal legt sich eine bedrückende Stille über den Raum.
So am 22. Februar, als die Ärzte von einer «langwierigen asthmatischen Ateminsuffizienz» berichteten. Oder sechs Tage später, als dem Papst zweimal die Lunge entleert werden musste, weil er sein eigenes Erbrochenes eingeatmet hatte. Diese Offenheit schockiert uns. Und das ist paradox. Als Journalisten verlangen wir Transparenz vom Vatikan. Doch wenn diese gegeben ist, sind wir überfordert.
Schweizergardisten in Zivil
Natürlich hält der Vatikan auch Informationen zurück «Alles, was gesagt wird, ist wahr, aber nicht alles, was wahr ist, wird gesagt», sagt mir eine gut informierte Quelle. «Der Papst hat heute Morgen weder Zeitung gelesen noch gefrühstückt», berichtete eine besonders gut informierte Quelle neun Tage nach der Aufnahme. Doch Bruni erwähnt dies in seinem Catch-up mit keinem Wort.
Wir wissen auch, dass bei der Frage, ob der Papst Besuch empfängt, nicht immer die Wahrheit gesagt wird. Italienische Polizisten und Schweizer Gardisten in Zivil bewachen das Krankenhaus, insbesondere den zehnten Stock. Wir haben auch den Eindruck, dass Sprecher Matteo Bruni selbst nicht über alle Besuche informiert ist, damit er uns nicht anlügen muss.
Nach der letzten Information am Abend kontaktiere ich meine Redaktion in den Niederlanden. Es gilt zu klären: Reicht es für die Printausgabe oder geht nur online? In jedem Fall schreibe ich eine Zusammenfassung für den WhatsApp-Kanal von «Nederlands Dagblad». Dann erst fahre ich nach Hause. Zwei Stationen. Für ein paar Stunden Ruhe.
*Hendro Munsterman ist Vatikan-Korrespondent beim «Nederlands Dagblad», wo dieser Artikel zuerst erschien. Adaption: Annalena Müller