
Im November 2023 trafen der damalige SBK-Präsident Bischof Felix Gmür und Bischof Joseph Maria Bonnemain Papst Franziskus in Sachen nationales Kirchengericht. Foto: KNA
Bischöfe entscheiden über kirchliches Strafgericht: Was zu erwarten ist
Die Schweizer Bischofkonferenz (SBK) stimmt Mitte März über die Statuten des kirchlichen Strafgerichts ab. Was ist von dem Gericht zu erwarten und welche Fragen sind offen? Ein Hintergrundbericht.
Annalena Müller
Die Ankündigung überraschte selbst Insider. Die Schweizer Bischofskonferenz versprach kurz nach der Vorstellung der Pilotstudie «Missbrauch im kirchlichen Umfeld» im September 2023 die Einrichtung eines nationalen kirchlichen Straf- und Disziplinargerichts. Dieses soll zusätzlich zur weltlichen Gerichtsbarkeit gegen Kirchenangestellte ermitteln, denen Übergriffe vorgeworfen werden. Gleichzeitig soll so das Problem der Befangenheit gelöst werden, das sich laut Studie in der Vergangenheit oft stellte.
Grosses öffentliches Interesse
Das öffentliche Interesse nach der Ankündigung war gross. Doch schnell zeigte sich: Einfach wird es nicht. In Deutschland bemühen sich Kirchenrechtler:innen seit Jahren um dem Entwurf eines möglichst unabhängigen Kirchengerichts. Bisher ohne Erfolg. In Europa verfügen bislang neben nur Frankreich und England-Wales über ein nationales Kirchenstrafgericht.

Kritiker wie der Berner Pfarrer und Kirchenrechtler Nicolas Betticher kritisieren das französische Vorbild hingegen als ungenügend. Das dortige Gericht sei weder von Rom noch von der Bischofskonferenz unabhängig. Diese Unabhängigkeit sei nötig, um künftig professionelle Untersuchungen von Missbrauchsvorwürfen zu gewährleisten.
Arbeitsgruppe erarbeitete Statuten
Im Herbst 2024 setzten die kirchlichen Dachverbände SBK, RKZ und KOVOS* eine Arbeitsgruppe ein. Diese hatte die Aufgabe, Statuten für ein Schweizer Gericht zu erarbeiten, die sowohl von der SBK als auch von der zuständigen Vatikan-Behörde, der Apostolischen Signatur, angenommen und möglichst rasch umgesetzt werden können.
Mit dem Rechtsanwalt Stefan Müller, der Strafrechtprofessorin Brigitte Tag und dem Neuenburger Kantonsrichter Pierre Cornu waren erfahrene Expert:innen des Schweizer (Straf-)Rechts vertreten, die zudem Kirchenerfahrung mitbrachten. Müller ist langjähriger Präsident der Landeskirche Glarus. Tag und Cornu haben Bischof Bonnemain in der Untersuchung gegen seine Amtskollegen wegen allfälliger Verletzung ihrer Meldepflichten in Missbrauchsfällen begleitet.

Als Kirchenrechtsexperten waren Stefan Loppacher, der auch Leiter der Dienststelle «Missbrauch im Kirchlichen Kontext» ist, RKZ-Generalsekretär Urs Brosi sowie Joseph Maria Bonnemain dabei. Letzterer hat auch den Vorsitz der Arbeitsgruppe inne.
Quadratur des Kreises?
Die Arbeitsgruppe musste die Statuten in kürzester Zeit formulieren und dabei ein langwieriges Hin und Her wie in Deutschland vermeiden. Dort stockt das Projekt nicht nur wegen der Spannungen zwischen Rom und der deutschen Bischofskonferenz. Auch unter den deutschen Bischöfen herrscht Uneinigkeit darüber, wie viel Gewaltenteilung sie zulassen und wie viel Macht sie abzugeben bereit sind.
Ähnlich sieht es innerhalb der SBK aus. Laut Insidern besteht keine Einigkeit darüber, wie weitreichend Kirchenreformen als Reaktion auf die Missbrauchskrise sein sollten. Einer der Gräben verläuft hier unter anderem entlang der Sprachgrenzen. Für die Arbeitsgruppe «Kirchenstrafgericht» bedeutete dies: Sie musste nicht nur schnell Statuten erarbeiten. Diese mussten auch einen ultimativen Kompromiss darstellen, dem alle zustimmen können.
Kein Partikularrecht
Wenig überraschend – und bereits im März 2023 vorhergesehen - orientierte sich die Kommission am Vorbild Frankreichs. Dass das französische Kirchengericht als Vorbild für das schweizerische dient, bestätigte der Churer Bischof Josef Maria Bonnemain Ende Januar indirekt in einem Interview mit dem «pfarrblatt». Im gleichen Interview bestätigte er, dass die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) bei ihrer Vollversammlung vom 10. bis 12. März über die Statuten abstimmen werde.

Auf Nachfrage räumte Bischof Bonnemain ein, das geplante Schweizer Gericht sei «ein erster Schritt». Zu einem späteren Zeitpunkt könne man über die Beantragung weitergehender Kompetenzen sprechen. Solche Kompetenzen wären im Rahmen eines Partikularrechts möglich, wie Nicolas Betticher im November 2023 im Interview mit der «SonntagsZeitung» darlegte.
Französische Kirchenstrafgericht
Aber blicken wir zunächst auf den Ist-Stand. Das französische Kirchenstrafgericht existiert seit 2022 und untersteht der Bischofskonferenz. Dessen Präsident ist gleichzeitig Vorsitzender des Gerichts, dem «Tribunale pénal canonique interdiocésain de la Conférence des Evêques de France».
Der Präsident - seit 2019 der Reimser Erzbischof, Eric de Moulins-Beaufort - hat gemäss Statuten grossen Einfluss auf das Gericht. Er ernennt die Kirchenanwälte. Der Offizial, also der Untersuchungsleiter, wird von der Bischofskonferenz bestimmt. Allerdings leistet dieser seinen Treueeid ebenfalls auf den Präsidenten.

Die Nähe zur Bischofskonferenz bedeutet nicht, dass diese oder ihr Präsident das Gericht tatsächlich beeinflussen. Allerdings sehen die französischen Statuten keine Mechanismen vor, die bei einer versuchten Einflussnahme greifen würden. Ob sich die Schweizer Statuten hierzu äussern, ist noch unbekannt.
Risiko Loyalitätskonflikte
Ein wichtiger Unterschied zwischen Frankreich und der Schweiz ist die Grösse. Die Schweiz besteht aus nur sechs Diözesen, in Frankreich sind es 94. Während in Frankreich die Verlagerung weg von der diözesanen und hin zu einer nationalen Kirchengerichtbarkeit die eingangs erwähnten Loyalitätskonflikte durchaus zu umgehen vermag, ist das in der kleinen Schweiz nicht zwangsläufig der Fall.

Bei nur sechs Diözesen und wenigen kirchenrechtlich versierten Fachkräften besteht das Risiko weiterhin, dass sich Untersuchungsleiter, Richter und Beklagte persönlich kennen, selbst wenn ein nationales Gericht eingerichtet wird. Es wird daher spannend sein, wie die für die Schweiz angepassten Statuten dieses Problem adressieren.
Minderjährige und Nebenklägerschaft
Die Zuständigkeiten des nationalen Tribunals in Frankreich entsprechen grundsätzlich denen der Diözesangerichte. So kann das Gericht nur solche Fälle verhandeln, die nicht von Kirchenrechts wegen nach Rom gemeldet werden müssen. Für Missbrauchsfälle, in denen Minderjährige betroffen sind, ist das Tribunal also nicht zuständig. In der Schweiz betreffen laut Pilotstudie 74 Prozent aller bekannten Missbrauchsfälle Minderjährige.
Aufgrund der Überlastung der vatikanischen Behörde ist allerdings anzunehmen, dass Rom solche Fälle zur Untersuchung und Aufarbeitung an das nationale Gericht in der Schweiz zurückverweist. Es wird interessant sein zu sehen, ob die von der Arbeitsgruppe ausgearbeiteten Statuten Regelungen vorsehen, solche Rücküberweisungen zu beantragen.
Gleiches gilt für die Frage, ob die Schweizer Statuten Betroffenen die Möglichkeit einräumen, als Nebenkläger aufzutreten. Im französischen Strafgericht ist ihnen das bisher genauso wenig möglich wie in den bestehenden Schweizer Diözesangerichten. In beiden Einrichtungen sind Betroffene darauf angewiesen, dass ihr Dossier von den zuständigen Offizialen und Kirchenanwälten korrekt geführt und betreut wird. Dass dies selbst in jüngster Vergangenheit nicht immer der Fall war, zeigte der sogenannte Fall Nussbaumer im Bistum Basel.
Vatikanische Zustimmung wahrscheinlich
Während einige inhaltliche Fragen noch offen sind, ist zu erwarten, dass Rom dem Schweizer Strafgericht zustimmen wird. Denn die Einrichtung des französischen Vorbildes war im Rahmen des bestehenden Kirchenrechts (CIC) möglich. Der CIC erlaubt es Bischöfen, anstellte der verschiedenen Diözesangerichte ein einzelnes nationales Gericht einzurichten.
Can. 1423: § 1. Mehrere Diözesanbischöfe können mit Genehmigung des Apostolischen Stuhles einvernehmlich anstelle der in cann. 1419—1421 erwähnten Diözesangerichte für ihre Bistümer ein einziges Gericht der ersten Instanz einrichten.
Die einzige Neuerung im französischen Fall war, dass Rom in Frankreich zwei Instanzen erlaubte. Neben dem nationalen Strafgericht, das durch Can. 1423 abgedeckt ist, gab der Vatikan die Erlaubnis, eine erste Berufungsinstanz einzurichten.
Im Falle des Schweizer Pendants bleibt zu wünschen, dass noch die ein oder andere zusätzliche Neuerung gewagt wurde. Und dass die Bischöfe diese Woche zustimmen. Ein positives Votum wäre ein wichtiges Signal, dass die Kirche es ernst meint mit ihrem Kultur- und Strukturwandel.
*SBK, RKZ und KOVOS: Schweizer Bischofskonferenz, Römisch-Katholische Zentralkonferenz der Schweiz (Dachverband der Landeskirchen), Konferenz der Vereinigungen der katholischen Orden