Spiritueller Missbrauch: Nationale Massnahmen am effektivsten
Das Bistum Basel plant eine Anlaufstelle für spirituellen Missbrauch. Das ist ein wichtiger Schritt. Aber sinnvoller wäre eine nationale Herangehensweise. Warum, erklärt der Hintergrundbericht.
Annalena Müller
Die Ankündigung des Bistums Basel kam am 21. Januar: Nach St. Gallen wird das grösste Bistum der Schweiz eine eigene Anlaufstelle für spirituellen Missbrauch schaffen. Das Konzept dafür liegt vor. Am 30. Januar werden die Landeskirchen des Bistums angehört.
Auf Bistumsgebiet begrenzt
Das Konzept für die Meldestelle und Interventionsschritte des Bistums ist laut Experten solide. Eine andere Frage ist, wir sinnvoll diözesane, also regional abgegrenzte, Anlaufstellen sind.
Während die Schweizer Kirche im Kampf gegen sexuellen Missbrauch auf nationale Strukturen setzt, soll die Bekämpfung von geistlichem Missbrauch weiterhin innerhalb der Bistums-Grenzen geschehen. Das birgt mehrere Probleme.
Bistumsgrenzen
Das erste Problem ist pragmatischer Natur. Viele Menschen wissen nicht, zu welchem Bistum sie gehören. Der Sitz des Bistums Basel liegt beispielsweise seit 1828 aus historischen Gründen in Solothurn.
Für Menschen in Schaffhausen oder im Thurgau, die wie der Kanton Bern zum Bistum Basel gehören, ist das wenig naheliegend. Mit anderen Worten: Für Betroffene wird es nicht leicht, überhaupt zu wissen, wohin sie sich wenden müssen. Ähnlich sieht es in anderen grossen Bistümern wie Chur oder Lausanne, Genf und Freiburg aus.
Das grössere Problem liegt jedoch woanders. Geistlicher Missbrauch ist nur selten auf regionale Strukturen beschränkt. Häufig betrifft er Gemeinschaften, die überregional oder international aktiv sind. Entsprechend sind Bistums-Grenzen häufig nur bedingt auf die Fälle, um die es geht, anwendbar.
Unscharfer Sammelbegriff
Aber eins nach dem anderen. Für die meisten Personen dürfte der Begriff «spiritueller» oder «geistlicher» Missbrauch wenig greifbar sein. Das liegt auch daran, dass es sich um einen Sammelbegriff handelt. Meist ist damit Machtmissbrauch im religiös-spirituellen Zusammenhang gemeint.
Beim geistlichen Missbrauch manipulieren Personen in der Seelsorge, im Religionsunterricht oder in geistlichen Gemeinschaften andere Menschen – häufig im Namen Gottes oder der Religion.
Sektenhafte Züge
Dies klingt abstrakt. Aber spiritueller Missbrauch ist in der katholischen Kirche ein bekanntes Phänomen. So stellen Vatikan und Bistümer immer wieder Gemeinschaften unter Beobachtung. 2023 etwa wurde die Gemeinschaft «Koinonia Johannes der Täufer» aus dem Bistum Lausanne, Genf und Freiburg verwiesen.
Meist handelt es sich um charismatische Gruppierungen mit sektenhaften Zügen, die ihre Mitglieder von Verwandten und Gesellschaft isolieren. Oft spielen sexueller Missbrauch oder finanzielle Ausbeutung eine Rolle.
Ein international bekanntes Beispiel ist die als traditionalistisch geltende Kongregation der Legionäre Christi. Gegründet von Marcial Maciel (1920-2008) wurde die Gemeinschaft zu einer der reichsten weltweit. Nachdem zahlreiche sexuelle Missbräuche bekannt wurden, reformierte der Vatikan die Gemeinschaft.
In der Schweiz sorgte letztes Jahr die Walliser Gemeinschaft Eucharistein für Schlagzeilen. Nach zahlreichen Skandalen stellte eine Visitation ein «pyramidales, missbräuchliches und infantilisierendes System» fest. 2024 musste der Gründer Nicolas Buttet die Gemeinschaft verlassen.
Anpassung des Kirchenrechts
Geistlicher Missbrauch ist derweil auch auf höchster Ebene anerkannt. Im November 2024 richtete der Vatikan eine Arbeitsgruppe ein, um spirituellen Missbrauch kirchenrechtlich zu definieren. Am 24. Januar 2025 präzisierte der zuständige Glaubenspräfekt, Kardinal Fernandez, dass der Straftatbestand vor allem sexualisierte Gewalt umfassen solle, die durch geistliche Manipulation angebahnt wird.
Im Bistum Basel will man das Problem direkt angehen. Dabei wartet man nicht auf eine Anpassung des Kirchenrechts, sondern will eine Meldestelle für Betroffene schaffen. Dafür hat das Bistum das eingangs erwähnte Konzept einer Meldestelle inklusive Interventionsverfahren ausgearbeitet.
Interventionsverfahren
Für die Meldestelle sollen «ausgewiesene Fachpersonen im Bereich geistliche Begleitung, vorzugsweise mit einem zivilen Beruf wie Ärztin, Psychologe (…)» angestellt werden. Die Fachpersonen sollen «zusätzlich Erfahrungen und Qualifikationen im Bereich Exerzitien und geistliche Begleitung» haben, und im Idealfall auch über eine theologische Ausbildung verfügen.
Wo man angesichts des kirchlichen Fachkräftemangels solch breit qualifizierte Personen finden möchte, sei hier dahingestellt. Die Ernennung der Fachpersonen obliegt dem Bischof, ebenso wie die Umsetzung allfälliger Massnahmen.
Wird ein Fall gemeldet und erachten die zuständigen Fachpersonen Massnahmen als nötig, informieren sie den Bischof darüber. Die Empfehlung ist verbindlich und der Bischof setzt die Massnahmen um. Wenn sich der Fall auf ausserhalb «des Jurisdiktionsbereichs des Bischofs von Basel», also in einem anderen Bistum, befindet, «leitet er das Dossier an die zuständige Stelle weiter», heisst es in dem Konzept.
Grenzen diözesaner Strukturen
Die Theorie klingt gut, aber die Praxis ist nachweislich mitunter problematisch. Die Missbrauchsstudie von 2023 identifizierte diözesane Strukturen als ein Problem in der effektiven Missbrauchsbekämpfung. Vor allem, weil die Kommunikation über Zuständigkeitsgrenzen hinaus oft nicht ausreichend funktioniert. In der Vergangenheit konnten Personen, die sich etwas hatten zu Schulden kommen lassen, in ein anderes Bistum abwandern und dort von vorne anfangen.
Dass dies kein Phänomen längst vergangener Zeiten ist, zeigt ein aktuelles Beispiel aus den Bistümern Basel und Chur. Ein Priester, der im Kanton Aargau rechtskräftig wegen Körperverletzung verurteilt wurde, ist heute im Bistum Chur tätig. Alle zuständigen Stellen wollen korrekt informiert haben. Aber niemand wusste etwas. Ohne die Berichterstattung der «Aargauer Zeitung» im Dezember 2024 wäre der Fall vermutlich nie ans Licht gekommen.
Das Konzept des Bistums Basel zeigt, dass das Thema geistlicher Missbrauch ernst genommen wird. Das ist eine gute Nachricht. Dennoch stellt sich nach den Lehren der Vergangenheit und Gegenwart die Frage, ob diözesane Lösungen effektiv sein können. Warum wird eine solche Stelle nicht direkt auf nationaler Ebene bei der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) angesiedelt?
«Bottom-up statt top-down»
Der Präsident der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ), Roland Loos, bestätigen gegenüber dem «pfarrblatt» die Bedeutung von Massnahmen auf nationaler Ebene. Loos räumt allerdings ein, dass diese Erkenntnis in der Schweizer Kirche noch verhältnismässig neu sei.
Zwar sei die Bedeutung von Massnahmen zur Bekämpfung von Missbrauch bereits vor der Veröffentlichung der Pilotstudie am 12. September 2023 bekannt gewesen, und die Bistümer hätten ab den Nuller Jahren diverse Massnahmen ergriffen. Doch erst seit 2023 sei die zentrale Bedeutung nationaler Ansätze allgemein anerkannt.
«Es ist für uns typisch, auf regionaler Ebene zu beginnen und dann in einem zweiten Schritt etwas auf der nationalen Ebene in Bewegung zu bringen», so Loos. Ähnlich könne es auch mit der geplanten Anlaufstelle für geistlichen Missbrauch im Bistum Basel sein. «Bottom-up statt top-down – das ist sehr schweizerisch», betont er. Wichtig sei jedoch, dass auch auf nationaler Ebene Lösungen erarbeitet werden.
Reglung auf Bistumsebene ein erster Schritt?
Diese Einschätzung teilt auch die Präventionsexpertin, Karin Iten. Sie war zwischen 2020 und 2023 Co-Leiterin der Präventionsstelle im Bistum Chur und gemeinsam mit Stefan Loppacher unter anderem für den Verhaltenskodex verantwortlich. Seit August 2023 ist sie Präventionsbeauftragte bei Swiss Olympic und Gründungsmitglied der privaten Präventions-Fachstelle «MachtRaum»
Gegenüber dem «pfarrblatt» begrüsst Iten den Schritt des Bistums Basel. «Es ist grossartig, dass hier die richtigen und wichtigen Schritte eingeleitet werden.» Dank ihrer Erfahrung in der Kirche und im nationalen Elitesport weiss Iten: «Eine einheitliche, schweizweite Strategie wäre besser. Schlicht im Hinblick auf Synergien, Professionalität und Unbefangenheit». Gerade die Nähe zwischen Akteuren innerhalb eines Bistums erschwere es oft, Neutralität zu gewährleisten. Das haben zahlreiche Fälle in der Vergangenheit gezeigt.
Ob die geplante Anlaufstelle ein erster Schritt hin zu einer nationalen Lösung ist, wollte das Bistum Basel nicht beantworten. Bistumssprecherin Barbara Melzl verwies auf eine künftige Medienmitteilung. Am heutigen Donnerstag (30.01.) hört das Bistum zunächst die Landeskirchen zum Schutz- und Interventionskonzept an. Aus der Bern heisst es dazu: «Der Berner Landeskirchenrat steht dem Vorgehen des Bistums positiv gegenüber».