
Neutralität und Ukraine-Krieg: eine Illusion? Irina Cherednychenko diskutiert mit Moderatorin Annalena Müller.
Die Rückkehr der Imperien: Welche Rolle für die Schweiz?
Welche Haltung soll die Schweiz angesichts der «Rückkehr des Imperialismus» einnehmen? An einem Podium des «Polit-Forum» Bern rangen Verteidiger und Kritiker der Schweizer Neutralität um Antworten. Das Podium wurde vom «pfarrblatt» mitorganisiert.
Sylvia Stam / Fotos: Polit-Forum - Susanne Goldschmid
Ist die Schweizer Neutralität angesichts des Ukrainekrieges eine Illusion? Diese Frage wurde am Montag (24.2.) – dem dritten Jahrestag der russischen Invasion in die Ukraine - auf einem Podium im Polit-Forum Bern diskutiert.
Klar verneint wurde diese Frage einzig von Wolf Linder, emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Uni Bern. Ihm standen mit Jon Pult, Bündner SP-Nationalrat, und Georg Häsler (FDP), Oberst und Experte für Militär und Geopolitik bei der NZZ, zwei Verfechter eines gemeinsamen Europas gegenüber.

Irina Cherednychenko, ukrainische Lehrerin und Leiterin der Geschäftsstelle Verein Ukraine-Hilfe Bern, brachte in dieser männlich dominierten und etwas theoretischen Runde immer wieder die Stimmen der leidenden ukrainischen Bevölkerung ein. Moderiert wurde das Podium von Annalena Müller, Chefredaktorin des «pfarrblatt» Bern, welches die Veranstaltung zusammen mit der bischöflichen Kommission «Justitia et Pax» mitverantwortete.
«Epochenwende» und «Rückkehr des Imperialismus»
Von einer «Epochenwende» war auf dem Podium im Käfigturm Bern mehrfach die Rede: «Wir erleben den totalen Zerfall der regelbasierten Ordnung», sagte Georg Häsler. «Donald Trump zerstört die Werte der amerikanischen Demokratie.» Autokratische Herrscher wie er oder Wladimir Putin fielen zurück in einen «blanken Imperialismus des 19. Jahrhunderts», doppelte Jon Pult nach. Der Vorschlag, den Trump der Ukraine unterbreitet habe, sei «schlimmer als Kolonialismus». Dem stellte er die «Selbstbehauptung Europas und damit auch der Schweiz» gegenüber.»

Pult erinnerte an die Kernwerte der schweizerischen Bundesverfassung und des Völkerrechts: Demokratie, territoriale Souveränität und Unabhängigkeit. Europa müsse sich selbst behaupten, wenn diese Rechte und Freiheiten weiterhin gelten sollen. «Die Ukrainer kämpfen dafür, Teil dieses demokratischen Europas zu sein. Wir müssen an der Seite dieser Menschen stehen.»
Die Schweiz als Vasallenstaat
Wenn es der Schweiz ernst sei mit diesen Werten, dürfe sie nicht gleichzeitig Drehscheibe für Kriegsgeschäfte sein, sonst werde sie «zum «Vasallenstaat von Trump oder Putin oder beiden» - ein Votum, das mit spontanem Publikumsapplaus quittiert wurde.
Ähnlich argumentierte der Journalist und freisinnige Berner Stadtrat Georg Häsler, der mit Pult in weiten Teilen des Gesprächs einig ging: Die Uno-Charta verbiete den Angriffskrieg und legitimiere den Verteidigungskampf. In diesem Fall gelte die Neutralität nicht mehr, sie sei vielmehr ein «feiges Instrument», damit einige wenige «unter dem Schutzmantel des Patriotismus» weiterhin Geschäfte machen könnten.
Sicherheit als Verbundsaufgabe
Für Häsler liegt die Antwort in einem Zusammenrücken Europas: «Sicherheit ist heute eine Verbundsaufgabe mit unseren Nachbarn», so der NZZ-Journalist. «Wir beginnen heute Abend damit, dass wir versuchen, die Schweiz nach Europa zu bringen.»

Grundsatz der Unparteilichkeit
Wolf Linder hatte angesichts dieser doppelten Europafreundlichkeit einen schweren Stand. Beharrlich brach er eine Lanze für die Schweizer Neutralität. Wiederholt stellte er klar, dass Neutralität nichts mit Gesinnungsmoral zu tun habe: «Gute Politik fällt keine moralischen Urteile, sondern sie bedenkt die Folgen.» Neutralität sei «ein staatspolitischer Grundsatz der Unparteilichkeit und der Nicht-Einmischung», unabhängig von dem, was man persönlich gut oder schlecht finde.
Die Argumente hierfür blieben allerdings etwas blass. Linder erinnerte an die «guten Dienste», welche die Schweiz mehrfach als Vermittlerin in Konflikten habe leisten können. Den Einwand von Moderatorin Annalena Müller, die Türkei oder Saudi-Arabien spielten als nicht neutrale Staaten eine viel wichtigere Vermittlerrolle in diesem Konflikt, vermochte er allerdings nicht überzeugend zu entkräften. Er entgegnete lediglich, die Schweiz sei nicht die einzige Vermittlerin. Später im Gespräch doppelte er nach: «Die Funktion der Vermittler wird immer wichtiger. Sie sind die einzigen Stimmen, die Frieden vermitteln können.»
In diesem Moment sterben Menschen
Angesichts dieser Diskussion um politische Grundsätze wirkten die Voten von Irina Cherednychenko etwas verloren. «Während dieser Diskussion sterben Menschen», sagte sie fast lakonisch. «Wir müssen irgendwie reagieren. Die Ukraine kann diesen Krieg nicht alleine gewinnen.» Putin werde noch weiter gehen, wenn man ihn jetzt nicht stoppe, «wer weiss, wie weit»; und deutete damit an, dass russische imperiale Ansprüche nicht nur die Ukraine, sondern auch den Rest Europas bedrohten.

Europa und die Nato
Im zweiten Teil des Podiums drehte sich die Diskussion um die Rolle der Nato. Ein Punkt, in dem sich Häsler und Pult nicht einig waren. Während für Häsler die «Selbstbehauptung Europas» auch die «Europäisierung der Nato» beinhaltet, hält Pult die Nato politisch «de facto für tot» und sieht darin eine «Chance für Europa, sich erstmals von den USA zu emanzipieren.» Für Linder gibt es nur die Alternative «mehr Nato oder mehr Neutralität». Die Neutralität habe die Schweiz vor Kriegen bewahrt und sei eine kluge Haltung in einer unsicheren Welt wie der gegenwärtigen.
Konfliktlösung konkret
Was Konfliktlösung konkret heissen kann, wurde deutlich, als ein Mann aus dem Publikum die Darstellung der Ukraine als Verteidigerin westlicher Werte als «Bullshit» bezeichnete und von Massakern der ukrainischen Regierung an der russischstämmigen Bevölkerung im Donbass erzählte. Als er auf wiederholte Rückfrage der Veranstalter, wie seine Frage an die Podiumsteilnehmenden laute, weitersprach und die Redner unterbrach, wurde er schliesslich durch die Veranstalter unterbrochen. Er zog es daraufhin vor, den Raum zu verlassen.

Wolf Linder wies im Nachklang des Intermezzos darauf hin, der Hinweis des Mannes auf die Einseitigkeit der Darstellung auf dem Podium sei durchaus berechtigt. Was richtig oder falsch sei, wisse man oft erst Jahrzehnte später. Georg Häsler stellte hingegen klar, dass der Mann nicht seiner Meinung wegen unterbrochen wurde, sondern weil er sich nicht an die Regeln des Abends – in diesem Fall eine Frage zu stellen und die Antwort abzuwarten - gehalten habe. «Regeln aber sind die Basis des Zusammenlebens».
Thema bewegt
Nach dem leidenschaftlich geführten Podium gingen die Diskussionen beim Apéro weiter. Wie sehr das Thema bewegt, zeigte sich nicht zuletzt an der Anwesenheit von Vertreter:innen aus Gesellschaft und Politik. Laut dem Geschäftsführer des Polit-Forums, Tom Berger, waren 98 Zuhörende in den Käfigturm gekommen. Anmeldungen habe es mehr gegeben, aber die Kapazitätsgrenze sei erschöpft gewesen.
Unter den prominenten Anwesenden waren neben “Mr. Corona” Daniel Koch, der frühere Schweizer Ukraine-Botschafter Christian Schoeneberger, FDP-Nationalrat Heinz Theiler (FDP), Alexander Feuz (SVP) und Olena Bidnova, Vertreterin der ukrainischen Botschaft.