Medizinethiker Ralf Jox (Foto: zVg) und Kerzen vor dem Vatikan (Foto: KNA)

Medizinethiker zu Franziskus: «Ein Papst muss nicht bis zum Ende leiden»

Ralf Jox ist Medizinethiker und Katholik. Ein Gespräch über die Kommunikation des Vatikans und die Forderung, bis zum Ende sein Kreuz öffentlich zu tragen.


Annalena Müller

Papst Franziskus liegt seit Mitte Februar im Krankenhaus. Der Vatikan informiert die Öffentlichkeit täglich über seinen Gesundheitszustand. Ist das ethisch korrekt?

Ralf Jox*: Der Papst ist nicht nur eine Person des öffentlichen Lebens, sondern für viele Menschen auch eine Person von spiritueller Bedeutung. Insofern gibt es ein nachvollziehbares und berechtigtes Bedürfnis der Menschen, über seine Situation informiert zu sein. Etwa um zu verstehen, warum er bestimmte Termine nicht wahrnimmt. Auf der anderen Seite hat auch ein Papst ein Recht auf Privatsphäre und den Schutz seines Wohls. Letztlich geht es bei der Information der Öffentlichkeit also immer um eine Abwägung dieser Interessen.

Wie schätzen Sie die Informationspolitik des Vatikans diesbezüglich ein?

Jox: Ich finde, der Vatikan informiert auf eine angemessene Weise. Es werden grundlegende Informationen gegeben, dass der Papst krank ist und dass seine Erkrankung ernst ist. Dazu kommen Updates darüber, ob sein Zustand stabil oder weniger stabil ist. Gleichzeitig werden keine intimen Details genannt und keine Fotos oder Videos veröffentlicht. Franziskus wird auch räumlich abgeschirmt, damit seine Intimsphäre gewahrt bleibt. Mit anderen Worten: Es wird bewusst gefiltert, was an die Öffentlichkeit gelangt, Und man darf davon ausgehen, dass die veröffentlichten Informationen mit dem Papst abgesprochen sind. Von aussen betrachtet, handhabt das vatikanische Presseamt die Situation professionell.

Franziskus ist das Oberhaupt von 1,4 Milliarden Katholik:innen. Er ist nicht nur Bischof von Rom, sondern gilt vielen als Stellvertreter Christi auf Erden. Das ist ein anderer Status als der eines normalen Staatsoberhauptes. Wie viel Recht auf medizinische Privatsphäre hat ein religiöses Oberhaupt wie der Papst?

Jox: Als Papst hat Franziskus eine religiöse Vorbildfunktion. Verschiedene Päpste haben diese Vorbildfunktion in der Geschichte der katholischen Kirche unterschiedlich gelebt. Denken wir an Johannes Paul II. (1978-2005). Er hat seine Parkinson-Erkrankung bewusst öffentlich gezeigt. Sein Nachfolger Benedikt XVI. (2005-2013) hingegen hat die Öffentlichkeit, gerade in gesundheitlichen Fragen, eher gemieden. Es liegt im Ermessen des Papstes und seiner Entourage zu entscheiden, wie viel er preisgeben möchte und wie er mit Krankheit und Leiden umgehen will – ob er sie zeigen oder für sich behalten möchte.

Es liegt an jedem Papst selbst, diese Entscheidung zu treffen?

Jox: Ja. Wobei der Schutz der Intimsphäre auch für einen Papst uneingeschränkt gilt. Es ist richtig, dass wir keine Bilder sehen, wie er gewaschen oder beatmet wird. Das sind Dinge, die auch bei einem Papst privat bleiben sollten.
 


Im Christentum spielen Leid und der Umgang damit eine wichtige Rolle. Der Papst hat hier ebenfalls eine Vorbildfunktion. Spielt das bei der aktuellen Kommunikation eine Rolle?

Jox: In der Geschichte der Kirche hat es in der Frage Entwicklungen gegeben. Heute wird Leid nicht mehr als Opfer gesehen oder gar gesucht. Sondern es ist etwas, das man annimmt, um es letztlich zu überwinden – so wie den Tod.

Kennt diese Annahme Grenzen? Kardinal Müller, der dem traditionellen Flügel der Kirche angehört, sagte kürzlich zu einem möglichen Rücktritt des Papstes: «Man steigt nicht vom Kreuz herab.» Muss ein Papst bis zum Ende leiden?

Jox: Ich halte diese Formulierung für problematisch. Sie würde bedeuten, dass man den kranken Papst auf eine Stufe mit Jesus stellt, der auf bestialische Weise hingerichtet wurde. Es gehört zur christlichen Ethik, Leiden in gewissem Masse anzunehmen und es nicht zu ignorieren oder zu tabuisieren. Auf der anderen Seite ist Leiden kein Selbstzweck. Papst Franziskus setzt sich in seinem Pontifikat dafür ein, das Leid vieler Menschen zu lindern. Er bemüht sich etwa um die Beendigung von Kriegen und den Kampf gegen Armut. Das Ziel besteht auch im Christentum in der Überwindung des Leidens. Die Erlösung ist durch Christi Passion erfolgt. Sie muss nicht vom Papst wiederholt werden.

Papst Franziskus hatte in den vergangenen Wochen mehrere Atemkrisen und musste zwischenzeitlich beatmet werden. Sind die Therapien des Papstes bereits lebensverlängernde Massnahmen?

Jox: Eindeutig ja. Es sind lebensverlängernde und lebenserhaltende Massnahmen – etwa die Unterstützung bei der Atmung oder die Bronchoskopien. Aber auch die Gabe von Antibiotika oder Medikamenten, die die Bronchien offen halten, gehört dazu.

Wo liegen die ethischen Grenzen solcher Massnahmen – und gelten bei einem Papst andere Massstäbe?

Jox: Als Ethiker muss ich klar sagen: Für den Papst gelten die gleichen Kriterien wie für jeden anderen Menschen. Die Ethik macht keinen Unterschied zwischen Herrn Müller, Meyer oder Bergoglio. Es gibt im Wesentlichen zwei wichtige Massstäbe: Erstens, ist eine Behandlung zum Wohl der Person? Fördert sie ihr Wohlergehen und ist das Verhältnis von Nutzen und Schaden vertretbar? 

Zweitens, entsprechen die Massnahmen dem selbstbestimmten Willen der betroffenen Person? Auch der Papst hat, wie alle Menschen, eigene Wertvorstellungen und Wünsche, einschliesslich darüber, wie er sterben möchte. Ein fundamentales Prinzip der modernen Medizin ist, dass jede Behandlung dem Patientenwillen entsprechen muss. Anhand dieser Kriterien wird entschieden, ob und wie behandelt wird.

Dürfte der Papst, wenn es so weit ist, wie jeder andere Mensch entscheiden, dass er nur noch palliativ, also schmerzlindernd, behandelt werden möchte?

Jox: Unbedingt. Papst Franziskus hat sich vor einigen Jahren selbst zu diesem Thema geäussert. Bei einer medizinethischen Konferenz im Vatikan zur Sterbehilfe im Jahr 2017, an der ich teilgenommen habe, liess er eine Rede verlesen. Darin sagte er sehr deutlich, dass es durchaus im Sinne der christlichen Ethik sein kann, am Lebensende gewisse Massnahmen zu unterlassen. Es geht hierbei um ein «liebevolles Unterlassen». Franziskus betonte, dass jede Massnahme am Lebensende verhältnismässig sein müsse. Massnahmen brauchen ein Mass.

Was wünschen Sie dem Papst?

Jox: Ich wünsche ihm Menschen, die ihn kompetent und liebevoll betreuen. Und natürlich wünsche ich ihm, wenn es möglich ist, dass sich sein Zustand wieder bessert und er sein Amt weiter ausüben kann. Wenn das nicht möglich ist, dann wünsche ich ihm, dass er würdevoll sterben kann – so, wie es seinen Wünschen entspricht.


*Ralf Jox ist Professor für Medizinethik an der Universitätsklinik Lausanne. Er lebt in Bern. Zusammen mit dem Medizinethiker Rouven Porz hat er das Buch «Wenn es ernst wird. Lebensentscheidungen von Kinderwunsch bis Sterbehilfe» (C.H. Beck-Verlag) veröffentlicht.